Was machen Sie in Sachsens Bürgerrat, Frau Schneider?

Als ich den Einladungsbrief von der sächsischen Regierung bekommen habe, musste ich zweimal lesen. Ich saß verdutzt da und konnte es erst nicht glauben. In dem Brief stand, dass ich als eine von 50 sächsischen Bürgern und Bürgerinnen zufällig ausgewählt wurde, um an einem Bürgerrat teilzunehmen. Darin sollen wir Handlungsempfehlungen zum Thema Corona für die sächsische Regierung erarbeiten, ein halbes Jahr lang. Ich habe den Brief am selben Tag beantwortet.
Ich wollte mitmachen, weil es mich interessiert hat und ich etwas bewirken möchte. Politisch engagiert habe ich mich vorher nie. Zwar bin ich Elternsprecherin in der Grundschule meiner Töchter, aber mehr auch nicht. In dem Bürgerrat reden wir über die Bereiche Wirtschaft, Bildung, Politik und Verwaltung sowie Gesundheit und entwickeln in kleinen Diskussionsforen Ideen für die Regierung. Das Forum findet monatlich an einem Samstagnachmittag statt. Dann treffen wir uns in einer Videokonferenz, reden angeleitet von Experten miteinander. Anfangs hält immer ein Wissenschaftler einen einführenden Vortrag zum Thema. Der Bürgerrat wurde im April gegründet.
Die Forderungen sind nicht verbindlich für die Politik.
Die Regierung möchte die langfristigen sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überwinden, gemeinsam mit uns Bürgern. Wir sollen Ideen erarbeiten. Das ist einmalig, nur in Thüringen und Baden-Württemberg gibt es noch so etwas.
Im Frühjahr wollen wir dann einen großen Forderungskatalog an die Regierung übergeben. Ich hoffe, das ist dann nicht zu spät. Vielleicht hätte es so einen Bürgerrat schon früher geben müssen. Ich will, dass die Politiker den Katalog ernst nehmen. Und es auch umsetzen, damit wir die Arbeit nicht umsonst machen. Die Empfehlungen sind leider nicht bindend für die Politiker.
Der Bürgerrat bildet mit den 50 Leuten die sächsische Gesellschaft sehr gut ab: Es sind ältere Menschen dabei, aber auch Studierende, sie kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, arbeiten in der Wirtschaft, der Bildung oder in Pflegeberufen. Sie leben in der Stadt und auf dem Land. Es ist schade, dass Kinder und Jugendliche nicht mitsprechen können. Vielleicht hätte man eine Art Schülerrat machen können, für Kinder ab zehn. Beim letzten Bürger-Forum haben wir über Bildung diskutiert: Das war dann so, dass die Erwachsenen über die Kinder sprachen. Was die Kinder eigentlich wollen, haben wir nicht gefragt.
Ob in dem Forum Impfgegner dabei sind, weiß ich nicht.
Übers Impfen wird nicht geredet. Und wer Corona insgesamt leugnet, nimmt vielleicht nicht an so einem Format teil. Alle in dem Bürgerrat haben akzeptiert, Corona gibt es. Unser Ziel ist, gemeinsam aus der Pandemie rauszukommen. Viel gestritten wird daher nicht, es geht harmonisch zu, wir wollen zusammen weiterkommen. In kleinen Gruppen sammeln wir unter Anleitung Ideen, hören uns zu und finden gemeinsam Lösungen. Wenn eine Teilnehmerin zu lange redet, schaltet sich ein Experte ein, und wenn wir nicht weiterkommen, werden wir von den Veranstaltern unterstützt.
Ich glaube aber kaum, dass der Bürgerrat helfen kann, die gespaltene Gesellschaft wieder zusammenzubringen, weil die meisten Menschen nicht einmal mitbekommen, dass es diese Beteiligungsform gibt. Einige meiner Nachbarn und Bekannten wussten davon nichts, man liest kaum etwas darüber. Wenn ich davon erzähle, reagieren die Leute sehr unterschiedlich. Manche sind sehr interessiert, andere sagen: „Das bringt doch eh nichts. Was will man denn da diskutieren?“ Ich erwidere dann: „Wenn es keiner macht, wird sich nichts ändern.“ Wenn meine Kinder eine Klassenarbeit schreiben müssen, können sie auch nicht sagen: „Bringt doch eh nichts! Lassen wir es sein.“
Wir müssen da positiv rangehen. Wir kommen nur gemeinsam aus der Krise. Ich glaube, die Menschen sind so politikverdrossen, weil ihnen die Politik so weit weg scheint. Vieles wird vorgegeben, wir Bürger sollen es dann hinnehmen. Das hat auch damit zu tun, dass man nicht weiß, wo man was bewirken kann, wo die Anlaufstellen sind. Wenn der Bürgerrat nicht ins Leben gerufen wäre, dann hätte ich nicht gewusst, an wen ich mich wende. Vielleicht hätte ich einen Brief ans Bildungsministerium, an Herrn Piwarz geschrieben, aber der wäre sicher in irgendeiner Schublade gelandet. Klar, man kann im Privaten diskutieren, aber bewirken tut das nichts.
Im letzten Bürgerrat ging es um Bildung. Da waren wir uns alle einig, dass die Schulen unbedingt offen bleiben müssen. Ich selbst habe Drillinge, die in die dritte Klasse gehen. Zwei davon haben Legasthenie. Eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, die noch immer Tabu ist. Es ist schwierig, Legasthenie anerkennen zu lassen, ohne dass Kinder gleich in eine Schublade gesteckt werden. Oft wird es verschwiegen, dabei hatte selbst Albert Einstein eine Lese-Rechtschreib-Störung. Die betroffenen Kinder sind anders intelligent.
Ich habe kurz vor dem zweiten Lockdown erfahren, dass meine Töchter Legasthenie haben.
Da habe ich sofort beschlossen, ihnen zu helfen und ihnen einen normalen Schulweg zu ermöglichen. Viele entscheiden dann, einfach damit zu leben, aber das finde ich einen falschen Weg. Legasthenie-Kinder müssen gerade in der Grundschule gefördert werden, um zum Beispiel zu lernen, dass der Wald nicht mit t geschrieben wird oder die Tulpe mit b. Vorlesen ist für sie nicht selbstverständlich, aber sie müssen mutig werden, es doch vor anderen zu tun. Legasthenie wird nie verschwinden, aber die Kinder werden besser im Schreiben und Lesen, sodass sie den Alltag bewältigen können und eine gute Ausbildung oder ein Studium absolvieren können.
Zum Beginn des zweiten Lockdowns, im Herbst, habe ich für meine Kinder den Job als Kinderarzthelferin aufgegeben. Mein Mann arbeitet als Rettungsassistent im Schichtdienst, ich wollte die drei Kinder nicht allein zu Hause lassen. Ich habe dann mit ihnen den Unterricht gemacht. Als Lehrerin einspringen und dann immer noch Mutter sein, das ist ein großer Spagat. Viele Eltern haben das nicht geschafft, sie mussten arbeiten und nebenbei unterrichten. Jetzt helfe ich diesen Kindern, die Defizite durch Corona abzubauen, als angehende Legasthenie-Trainerin und Lerndidaktikerin arbeite ich an einer Schule. Deshalb ist mein Wunsch an die Regierung, das staatliche Programm „Aufholen nach Corona“ fortzusetzen.
Während des Lockdowns hatten wir einen festen Rhythmus in der Familie. Halb acht Frühstück, danach Schulaufgaben, ich habe sogar eine Art Tafel besorgt. Am Nachmittag konnten meine Töchter raus zum Toben. Wir wohnen auf dem Land nahe der Elbe, haben einen großen Garten mit Hühnern und Schafen. Da war ich froh, nicht in einer kleinen Wohnung in der Stadt zu leben. Aber es hatte auch Nachteile, den Lockdown auf dem Land zu verbringen. Die Plattform "LernSax" hat bei uns nie funktioniert, die Grundschule wird erst im kommenden Frühjahr digitalisiert.
Meine drei Töchter hatten nur sich.
Andere Freundinnen haben sie kaum gesehen, weil alles weit entfernt ist. Für uns war der Lockdown trotzdem eine gute Zeit. Wir waren viel mehr draußen, haben Gesellschaftsspiele gespielt, sind zusammengerückt als Familie, waren wandern. Ich hatte aber zwischendurch schon das Gefühl, jetzt reicht es langsam: Ich wollte, dass die Kinder wieder zum Reiten oder in die Musikschule gehen konnten.
Angst vor Corona hatte ich die ganze Zeit. Meine Tochter lag lange mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus, ich hatte Sorge, dass sie sich mit Covid ansteckt. Oder auch, dass ich und mein Mann uns infizieren und dann auf die Intensivstation müssen. Als wir endlich geimpft wurden, habe ich aufgeatmet. Wir haben eben eine gesellschaftliche Verantwortung, ich vertraue der Ständigen Impfkommission. Dass es Menschen gibt, die sich nicht impfen, kann ich nicht verstehen, aber ich akzeptiere es. Ich will nur endlich über den Berg von Corona-Neuinfektionen hinwegkommen. Angst vor einer Ansteckung habe ich immer noch. Die Drillinge werden Mitte November neun Jahre alt, den Geburtstag werden wir mit ihren Freunden erst im Frühjahr nachholen.
Im nächsten Bürgerrat geht es um Wirtschaft. Da weiß ich noch nicht viel drüber. Ich habe den Wunsch, dass die kleinen Läden geöffnet bleiben. Es mussten so viele Handwerksbetriebe schließen. Vielleicht sollte es noch mehr solche Bürgerräte geben. Nicht nur zum Thema Corona. Ob ich mich danach politisch engagiere, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie man das in die Wege leiten könnte. In die richtige Politik werde ich nicht gehen, da fehlt mir die Zeit als Mutter, aber so im Bürgerrat macht das Spaß, ich habe das Gefühl, etwas bewirken zu können. Wenn ich anderen davon erzähle, dann sag ich das mit Stolz. Auch meine Kinder sind stolz. Sie sagen dann: „Mama engagiert sich, Mama versucht, die Welt ein Stück zu verbessern.“
Notiert von Luisa Zenker
- In der Reihe „Ich & Wir“ erzählen Menschen aus Sachsen, wie sie die Brüche in der Gesellschaft erleben.
- Das Forum Corona wurde im Frühjahr 2021 ins Lebens gerufen, weitere Informationen unter: www.forum-corona.de