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Sachsens Kummerkasten - Der Petitionsausschuss im Landtag

Einst fühlte sich Ingrid Biedenkopf, Frau des früheren sächsischen Regierungschefs Kurt Biedenkopf, für die Sorgen der Menschen im Freistaat zuständig. Dabei hat der Gesetzgeber eigens dafür einen Ausschuss im Parlament eingesetzt. Und der hat reichlich zu tun.

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Von Jörg Schurig

Dresden. An die kürzeste Petition seiner Amtszeit kann sich der FDP-Politiker Tino Günther gut erinnern. Es war ein Hilfeschrei. Mit krakeliger Schrift hatte eine alte Frau aus einem Pflegeheim nur einen Satz geschrieben: „Ich will hier raus.“ Der Petition konnte nicht mehr „abgeholfen“ werden, wie es offiziell heißt. Als sich der von Günther geleitete Petitionsausschuss des sächsischen Landtages mit dem Fall befassen wollte, war die Frau schon gestorben. Solche Schicksale gehen Günther sichtlich nahe. „Das ist das Leben. Wir werden in unserer Arbeit mit dem prallen Leben konfrontiert. Und dabei kann man auch viele kleine Sachen bewegen.“

Günther, von Beruf Holzspielzeugmacher, stammt aus dem Erzgebirge. Menschen aus dieser Region werden als bodenständig beschrieben. Die Arbeit im Petitionsausschuss war sein großer Wunsch. Seit 2009 leitet er den mit 28 Mitgliedern größten Parlamentsausschuss. Vielleicht ist es das Gremium, das sich am wenigsten mit eigentlicher Politik zu befassen hat. Dennoch scheint es für eine funktionierende Demokratie unerlässlich. Es geht bei Petitionen der Bürger nicht darum, mit einer Beschwerde Frust abzulassen. Vielmehr soll der Gesetzgeber staatliches Handeln überprüfen und bei Bedarf korrigieren. Seit 2008 könnten Petitionen auch online übermittelt werden.

„Ich habe oft das Bauch- und Herzgefühl, dass Bürger von Behörden nicht anständig behandelt werden“, sagt Günther. Aber nicht alles, was als Petition im Landtag ankomme, sei tatsächlich eine. „Privates wie Beschwerden über Nachbarn gehen uns nichts an“, sagt der 49 Jahre alte FDP-Politiker. Beim letzten Tag der offenen Tür im Landtag hatte er einen ganz speziellen Fall. Ein Zwölfjähriger beschwerte sich darüber, dass Mädchen und Jungen im Schulsport nach unterschiedlichen Leistungsparametern benotet werden. Außerdem verlangte er eine „Kinderfraktion“ im Parlament. Günther fuhr später in die Schule des jungen Petenten und erteilte eine Lehrstunde im Petitionsrecht.

Jährlich 1.200 Bürger-Eingaben

„Petitionsrecht ist Jedermansrecht“, sagt der Liberale. Natürlich ließen sich kindliche Wünsche nach mehr Taschengeld nicht über das Parlament einklagen. Aber Günther ist froh, wenn sich viele Bürger an das Gremium wenden. In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Petitionen auf etwa 1.200 pro Jahr eingepegelt. 2010 trafen exakt 1.219 Schreiben im zuständigen Referat des Landtages ein, 888 davon wurden als Petition eingestuft. „Im Zweifel für die Petition“, erläutert der Chef den Grundsatz. Der Ausschuss behandle Anschreiben großzügig, auch wenn mancher Text streng genommen keine Petition sei. In jedem Fall prüfen Juristen das Anliegen.

Das kann bisweilen auch skurrile Züge annehmen. Wenn Anwohner eines Tierparkes sich über nächtliche Geräusche von Pfauen beschweren oder Häftlinge die Anstaltskost monieren: Oft wird der Ausschuss zum Kummerkasten auch für die kleinen Dinge des Lebens. Soziale Themen nehmen breiten Raum ein. Da geht es um Gebührenfreiheit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Hartz-IV-Bescheide oder Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Häufig spielen Straßenbau, Verkehr, Lärm und Wegerecht eine Rolle. Viele Petitionen stammen aus den Gefängnissen. Günther vermutet, dass die viele Freizeit hinter Gittern die Lust und Fantasie am Verfassen von Petitionen beflügelt.

Tatsächlich entsteht bei Schreiben aus Haftanstalten oft der Eindruck, als wären alle Insassen Justizopfer. Günther ärgert sich, wenn Angaben unwahr sind. „Dann fühle ich mich verarscht.“ Aber auch das Gefühl, von Behörden nicht ausreichend informiert zu werden, bringt ihn auf die Palme. „Dann hole ich die Folterinstrumente heraus.“ Der Ausschuss könne nicht nur erweiterte Stellungnahmen und Akten anfordern, sondern auch Vor-Ort-Termine mit allen Beteiligten vornehmen. Anscheinend eine wirksame Methode. Günther berichtet von Bürokraten, die bei eisigen Temperaturen auf der Baustelle schon mal ihre Meinung ändern.

Ungefilterte Probleme der Menschen

„Die Arbeit im Petitionsausschuss bedeutet mir sehr viel“, sagt auch der Linke-Abgeordnete Horst Wehner. Er ist für Soziales zuständig. Im Grunde habe er keine negativen Erfahrungen mit Behörden gemacht. „Ich finde, Behörden haben kein Interesse daran, jemandem Leistungen vorzuenthalten.“ Die Anwendungen der Vorschriften seien auch nicht immer einfach, sagt er und zeigt Verständnis für manche Frage. Martin Modschiedler von der CDU nennt ein weiters Motiv für die Arbeit im Ausschuss. Auf diese Weise erfahre er „ungefiltert und direkt“ von den Problemen der Leute. Auch er hält die Behörden in aller Regel für „sehr kooperativ“.

Laut Günther ist etwa ein Drittel der Petitionen im Sinne der Antragsteller erfolgreich. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass die im Nachhinein sofort Recht bekommen. Denn erfolgreich ist eine Petition auch dann, wenn sie an zuständige Stellen wie Ministerien weitergeleitet wird und auf diesem Weg möglicherweise in ein späteres Gesetz einfließen kann. Manchmal wundert sich Günther über die Hartnäckigkeit von Petenten. Ein Bürger aus Tschechien wollte partout Geld aus Anleihen der Sächsischen Landespfandbriefanstalt von 1926 kassieren und verlangte nach langen Bemühungen schließlich Beistand beim Parlament: „Natürlich konnten wir da nicht weiterhelfen.“

Anders bei Rehbock Egon: Der wurde einst verletzt ins Stollberger Tierheim gebracht und dort aufgepäppelt. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz sah einen Fall von Jagdwilderei und beschäftigte mehrere Instanzen. „Egon ließ sich nicht mehr auswildern. Man hat ihn deshalb auch nicht mehr als Wildtier klassifiziert“, erinnert sich Günther an eine Petition, deren Anliegen letztlich Gnade bei Gericht fand. Seit 2011 bekommt dank Petition auch ein früheres DDR-Haftopfer die volle ihm zustehende Entschädigungsrente, obwohl das damalige Chemnitzer Regierungspräsidium den Antrag abgelehnt hatte - dem Mann fehlten nur wenige Stunden Haftzeit an der erforderlichen Mindesthaftdauer.

Es sind solche Fälle, die Günther immer wieder neue Motivation geben. Da nimmt er auch hin, persönlich angegriffen und beleidigt zu werden. Einmal ist ein enttäuschter Petent bis in seine Werkstatt in Olbernhau vorgedrungen, um ihn dort zu bedrängen. Günther macht geltend, dass die zwölf Mitarbeiter im Petitionsreferat noch viel mehr bei Schmähanrufen aushalten müssen. Schmunzeln muss er heute über jene Zeit, als das „Büro Ingrid Biedenkopf“ bisweilen die Amtsgeschäfte des Petitionsausschusses ausübte. Als Landesmutter hatte die Ehefrau des früheren sächsischen Regierungschefs „König Kurt“ für ihren Kummerkasten sogar einen eigenen Etat im Haushalt des Landes. Rund 2500 Briefe pro Jahr gingen damals bei ihr ein. (dpa)