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Schwedens Sonderweg ins Ungewisse

Trotz der freizügigen Corona-Politik steht das Land wirtschaftlich besser da als andere in der EU. Dafür zahlen die Schweden aber einen hohen Preis.

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Kaum eine Strategie hat in der Corona-Krise international so viele Schlagzeilen gemacht wie der schwedische Sonderweg. Gegner der deutschen Corona-Beschränkungen halten den freizügigeren Weg der Schweden für den besseren.
Kaum eine Strategie hat in der Corona-Krise international so viele Schlagzeilen gemacht wie der schwedische Sonderweg. Gegner der deutschen Corona-Beschränkungen halten den freizügigeren Weg der Schweden für den besseren. © Ali Lorestani/TT News Agency/AP/dpa

Ein beliebtes Utensil bei Demonstrationen gegen die deutschen Corona-Beschränkungen ist neben dem Grundgesetz ein blau-gelbes Stückchen Stoff. Gern haben Protestler die schwedische Flagge dabei: Ausdruck dafür, dass eine freizügigere Corona-Strategie der bessere Weg sei. Keine Maskenpflicht, keine geschlossenen Lokale oder Schulen - und trotzdem ging die Zahl der Neuinfektionen in Schweden zuletzt stark zurück, während sie anderswo in Europa wieder steigt. Wirkt die Strategie der Skandinavier am Ende doch?

Auch etwas mehr als ein halbes Jahr nach den ersten bestätigten Corona-Fällen in Europa ist es noch zu früh, um zu sagen, ob es die Schweden mit ihrem eigenwilligen Vorgehen besser machen als alle anderen. Seit Monaten wird über den Sonderweg gestritten: in der Wissenschaft, in der Politik, in den sozialen Medien. Auf Twitter ist sich einer bereits sicher: "Wer zuletzt lacht, lacht in Schweden."

Fünfmal so viele Infizierte wie in Deutschland

In wirtschaftlicher Hinsicht kam das EU-Land bislang in der Tat besser durch die Krise als andere: Zwar brach das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um satte 8,6 Prozent ein, so stark ein wie seit mindestens 40 Jahren nicht. Der Rückgang lag jedoch unter den 10,1 Prozent, um die die deutsche Wirtschaft nach bisherigen Zahlen schrumpfte. Andere EU-Mitglieder wie Spanien und Italien haben noch heftigere Einbrüche zu verkraften.

Schaut man aber auf die langfristigen Corona-Zahlen, dann haben die Schweden bereits einen hohen Preis bezahlt: Seit der ersten bestätigten Infektion Ende Januar wurde das Virus in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land bei mehr als 83.000 Menschen nachgewiesen. Fast 5.800 Menschen mit Corona-Infektion sind gestorben. Im April gab es mehr als hundert Tote täglich.

Auf die Einwohnerzahl gerechnet starben bis heute etwa fünfmal so viele Infizierte wie in Deutschland oder Dänemark. Auch die Gesamtzahl der Infektionen liegt um ein Vielfaches höher. Dennoch verteidigt der Architekt der schwedischen Corona-Strategie, der Staatsepidemiologe Anders Tegnell, das Vorgehen konsequent. Dass Ältere nicht besser geschützt werden konnten, betrübt jedoch auch ihn. "Unser großes Versagen lag im Bereich der Langzeit- und Altenpflege. Die regionalen Ämter hätten besser vorbereitet sein müssen, dann hätte es weniger Tote gegeben", sagte er "Bild".

Er ist der Architekt der schwedischen Corona-Strategie: Staatsepidemiologe Anders Tegnell.
Er ist der Architekt der schwedischen Corona-Strategie: Staatsepidemiologe Anders Tegnell. © Pontus Lundahl/TT News Agency/AP/dpa

Aber die Schweden machen Fortschritte. Die Zahl der Neuinfektionen ging seit Ende Juni deutlich zurück. Pro Tag kommen mittlerweile nur einige hundert neue Fälle hinzu. Auf der Intensivstation liegen heute deutlich weniger Corona-Patienten. Die Zahl der täglichen Todesfälle ist konstant niedrig, wie Tegnell diese Woche nochmals unterstrich.

Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auf die Einwohnerzahl gerechnet in den vergangenen 14 Tagen mehr als doppelt so viele Menschen infizierten wie in Deutschland. Auch die Todesrate ist höher als in den meisten EU-Ländern. Was häufig missachtet wird: Das Land geht zwar einen freizügigeren, mehr auf die Vernunft der Bürger basierenden Weg; dass die Schweden ohne jegliche Beschränkungen daherleben, stimmt aber nicht.

Die erhoffte Herdenimmunität bleibt weiter aus

"Die Leute sind nicht dumm in Schweden", sagte der Statistiker Ola Rosling jüngst in der BBC. "Auch wenn die Behörden nicht so strikt waren, hat die Öffentlichkeit ihr Verhalten definitiv geändert. Und darum geht es." Ja, die Schulen blieben auch auf dem Höhepunkt der Pandemie offen, ebenso wie Restaurants, Kneipen, Geschäfte und eine ganze Reihe anderer Einrichtungen. Maskenpflicht? Gab und gibt es nicht. Tegnell hält davon weiterhin nichts.

Dass das Leben weiterging wie zuvor, ist jedoch ein Trugschluss: Die nationale Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten mahnt gebetsmühlenhaft, Abstand zu halten. Öffentliche Versammlungen mit mehr als 50 Leuten bleiben verboten, Besuche in Altersheimen ebenfalls, in Lokalen darf nur am Tisch bedient werden. Tegnell empfiehlt zudem, auch im Herbst im Homeoffice zu arbeiten. Die erhoffte Herdenimmunität - wenn ein Virusausbruch abklingt, weil immer mehr Menschen immun sind, da sie die Krankheit hinter sich haben oder geimpft wurden - ist derweil bis heute ausgeblieben.

Für Björn Olsen war die schwedische Strategie von Anfang an völlig falsch. Der Professor für Infektionskrankheiten an der Universität Uppsala zählt zu 22 Wissenschaftlern, die Tegnells Vorgehen seit Monaten kritisieren. Zu viele Menschen hätten zu früh sterben müssen, weil sich ein Virus unkontrolliert verbreiten habe können. Frühzeitige strikte Maßnahmen und Tests hätten geholfen. Im schwedischen Radio sagte Olsen: "Der Lockdown-Zug ist bereits abgefahren. Wir haben die Fahrkarte schon Mitte März auf dem Bahngleis verloren." (dpa)

So berichten wir über die Corona-Krise: