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Schwieriger Start ins Schulleben

Immer mehr Kinder müssen die erste Klasse wiederholen. Sind die Schuluntersuchungen zu lasch?

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© dpa

Von Annett Heyse

Freital. Es ist früher Nachmittag an der Ludwig-Richter-Grundschule in Freital-Birkigt. Die Schüler haben jetzt Hortzeit. Mathe, Deutsch, Sachunterricht – all die kleinen und großen Sorgen des Schulalltags liegen erst mal hinter ihnen. Bis zum nächsten Tag. Dann geht der Ernst weiter – und für etliche auch die Qual. Denn manch einer muss sich das Abc mühsam erarbeiten, mitunter, ohne große Fortschritte zu machen. „Dass Kinder in der Grundschulzeit ein Jahr wiederholen müssen, das geschieht heute häufiger als früher“, sagt Schulleiterin Silke Nitschel.

Immer mehr Kinder haben einen schwierigen Start in ihr Schulleben. So wiederholen in Sachsen in diesem laufenden Schuljahr 2 781 Mädchen und Jungen im Grundschulalter eine Klasse. Das sind zwei Prozent aller Grundschüler. Die meisten Kinder betrifft das gleich im ersten oder zweiten Schuljahr – 1 307 Erstklässler beziehungsweise 712 Zweitklässler blieben sitzen. Im Landkreis schafften es im vergangenen Sommer 127 Grundschüler nicht in die nächsthöhere Klasse.

Wobei der Begriff „sitzenbleiben“ nicht korrekt ist. „Freiwilliges Wiederholen“ heißt es heutzutage. Demnach kann ein Kind, das in der ersten oder zweiten Klasse nicht mitkommt, nach Absprache zwischen Lehrern und Eltern das Schuljahr freiwillig wiederholen, muss es aber nicht. „Wir sehen die ersten beiden Schuljahre als Einheit. Die Kinder sollen in ihrem Tempo das Schreiben und Rechnen erlernen. Wer es nach der ersten Klasse noch nicht kann, lernt es eben erst im zweiten Schuljahr“, erklärt Petra Nikolov, Sprecherin des Landesamtes für Schule und Bildung in Dresden. Bildungspolitisch ausgedrückt: Es wird einkalkuliert, dass nicht alle Schüler auf Anhieb Tritt fassen. Nikolov: „Die Kinder kommen nun mal mit unterschiedlichem Vorwissen und unterschiedlichem Leistungsvermögen in die Schule.“ Das kann Grundschulleiterin Nitschel nur bestätigen. „Früher war das Vorwissen einheitlicher.“ Heute klafft der Entwicklungsstand immer weiter auseinander. Nitschel: „Von ganz gut bis ganz schwach – die Lücken wird größer.“

Die erste Weichenstellung ist die Schuleingangsuntersuchung, bei der die Kinder herausgefischt werden sollen, die noch nicht schulreif sind. Dafür ist der Kinder- und Jugendärztliche Dienst des Landkreises zuständig. Hier arbeitet Grit Hantzsch. Jedes Jahr untersuchen sie und ihr Team etwa 2 200 Kinder. In dem knapp einstündigen Testverfahren geht es um die körperliche, geistige und seelische Entwicklung der Vorschüler. „Wir prüfen, ob das Kind altersgerecht entwickelt ist“, erklärt Hantzsch. Seit drei Jahren wird dazu ein neues, standardisiertes Testverfahren angewendet. Abgeklopft werden neben den körperlichen Maßen das Hör- und Sehvermögen, die Fein- und Grobmotorik, die sprachliche Entwicklung, die Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit, die soziale Reife. „Das ist natürlich nur eine Momentaufnahme“, sagt Hantzsch.

Sollte mal ein Kind mit einer Testaufgabe nicht klarkommen oder insgesamt nicht so gut bei der Untersuchung abschneiden, sei das jedoch nicht gleich das Aus für die baldige Schuleinführung. „Die Kinder stehen bei der Untersuchung unter Druck, viele Eltern ebenso. Das beachten wir natürlich.“ Die Ergebnisse können ebenso durch Müdigkeit, Unwohlsein, Schüchternheit beeinflusst werden. Am Ende der Tests steht eine von drei Möglichkeiten: Grundschule, Förderbedarf oder die Rückstellung. „Etwa 150 Kinder pro Jahr werden zurückgestellt. Das betrifft fünf bis sechs Prozent. Die Zahlen sind seit Jahren etwa gleichbleibend“, sagt Hantzsch.

Parallel dazu werden auch die Schulleiter aktiv, sobald ein gutes Dreivierteljahr vor Schulbeginn die Anmeldungen vorliegen. „Wir informieren uns in den Kindergärten über jedes Kind“, erläutert Schulleiterin Nitschel. Für das kommende Schuljahr wurden 16 Kitas abtelefoniert. Nitschel hat sich nach dem Entwicklungsstand und Auffälligkeiten erkundigt und abgefragt, inwiefern weitere Beeinträchtigungen vorliegen. Am Ende entscheidet die Schulleiterin, ob alle angemeldeten Kinder aufgenommen werden. „Fünf Kinder nehmen wir nicht, die werden zurückgestellt“, sagt Nitschel.

Trotz dieser groß angelegten Prüfungen landen dennoch etliche Abc-Schützen in den ersten Klassen, die mit den Anforderungen und dem Tempo nicht klarkommen. Das sorgt schnell für Frust bei Kindern, Eltern, Lehrern. An der Birkigter Grundschule versucht man, die Situation mit einer Integrationsassistentin und mit differenziertem Unterricht aufzufangen. „Wir verteilen beispielsweise Arbeitsblätter mit unterschiedlichen Anforderungen. Die guten Schüler bekommen auch Zusatzaufgaben. Wer es noch nicht begriffen hat, muss den Stoff weiter üben“, berichtet Silke Nitschel. Leicht sei das aber nicht. „Das stellt uns vor Herausforderungen. Und die betroffenen Kinder sind schnell demotiviert und haben keine Lust mehr.“

Dann bleibt nur die Wiederholung. Die kann sogar ab dem Halbjahr gelten. Nitschel berichtet, dass seit dem Ende der Winterferien in ihrer Schule sogar Kinder von der zweiten Klasse in Klasse eins zurückgewechselt sind. „Erfahrungsgemäß tut das den Kindern gut. Es fällt ihnen leichter, weil sie das alles schon mal gehört haben.“ Wenn gar nichts hilft, bleibt der Weg über die Förderschule. Dahin können Schüler wechseln, wenn ihre Lehrer ihnen attestieren, dass sie an der regulären Grundschule keine Chance haben.