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Sie ist wieder da

Gestern Mittag bekam die Großdobritzer Kirche nach 13 Jahren ihre Turmspitze zurück.

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© Anne Hübschmann

Von Catharina Karlshaus

Großdobritz. Gisela Fischer ist vorbereitet. Die sympathische Rentnerin, die genau gegenüber der Hauptdarstellerin dieses Dienstagvormittages wohnt, ist schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen. An jenem verhängnisvollen 27. Oktober 2002 – als der Sturm den 42 Meter hohen Kirchturm auf einer Länge von 27 Metern weggebrochen hatte – war sie nicht vor Ort, sondern im Erzgebirge gewesen. „Als wir wieder zurück kamen, lag der ganze Hof voller Schutt und Schiefer, der zu uns hinüber geweht war. Es war ganz furchtbar“, erinnert sich Gisela Fischer genau. Der Kirchturm, den sie seit dem Einzug ins Haus 1966 aus dem Fenster gesehen hatte, lag dahingestreckt wie ein einfaches Streichholz.

Das Wetter war gestern eindeutig mit den Großdobritzern:
Das Wetter war gestern eindeutig mit den Großdobritzern: © Anne Hübschmann
Das Wetter war gestern eindeutig mit den Großdobritzern: Nach 13 Jahren durften sie Zeuge werden, wie ein Kran die 18 Tonnen schwere und 32 Meter hohe Kirchturmspitze wieder auf das Gotteshaus setzte.
Das Wetter war gestern eindeutig mit den Großdobritzern: Nach 13 Jahren durften sie Zeuge werden, wie ein Kran die 18 Tonnen schwere und 32 Meter hohe Kirchturmspitze wieder auf das Gotteshaus setzte. © Anne Hübschmann
Nachdem sie innen befestigt wurde, folgte die Turmkugel und das 30 Kilogramm schwere goldene Kreuz.
Nachdem sie innen befestigt wurde, folgte die Turmkugel und das 30 Kilogramm schwere goldene Kreuz. © Anne Hübschmann

Ein bitterer Anblick, vor dem sich die eingeschworene Dorfgemeinschaft jedoch nicht geschlagen geben wollte. Ganz im Gegenteil. Die Großdobritzer mobilisierten in den vergangenen 13 Jahren ihre möglichen Kräfte, sammelten Spenden, musizierten und setzten alle Hebel für ihre Kirche in Bewegung. „Die Menschen haben sich wirklich auf ganz besondere Weise für den Wiederaufbau des Kirchturmes eingesetzt“, sagt Matthias Fischer. Wie der Pfarrer betont, käme gut die Hälfte der Bausumme von 206 000 Euro durch Spenden an die Kirchgemeinde zusammen. Der Rest, getragen von Landeskirche Sachsen sowie Mitteln der Denkmalpflege des Kreises, ermögliche es, dass dem 1880 erbauten Gotteshaus an diesem Tag endlich das zurückgegeben werden kann, was es weithin sichtbar ausmachte: Seine Turmspitze.

Doch bevor es wirklich so weit ist, dauert es noch. Während Gisela Fischer für die immer zahlreicher erscheinenden Schaulustigen mittlerweile Stühle herbeischleppt und sie vor ihr Hoftor stellt, bringt sich der Mann der folgenden Stunde in Position. Kranführer Sven Mager muss bald starke Nerven beweisen, denn mit seiner Hilfe wird die neue Turmspitze nach oben gebracht werden. „Das ist ja wirklich keine alltägliche Arbeit, aber wir werden es schaffen“, versichert der 35-Jährige und lacht. Immerhin habe er 2010 auch die Lenzer Turmspitze wieder erfolgreich gen Himmel befördert. Das klappe schon.

Posaunenchor rührt mit Musik zu Tränen

Der Himmel über dem Großdobritzer Gotteshaus ist inzwischen wolkenlos und leuchtend blau. Geradezu Festtagswetter, das die Einwohner nutzen, um das besondere Ereignis zu feiern. Viele haben dafür extra einen Tag Urlaub genommen, kommen sogar aus Meißen, Radebeul, Freital oder den umliegenden Ortschaften. „Wir haben so lange darauf gewartet und erleben das schließlich nie wieder“, bekennt Wolfgang Schurig. Eilfertig läuft das aktive Kirchenvorstandsmitglied umher, fotografiert, gibt Auskünfte und sorgt für erfrischende Getränke. Mehrere Kuchen stapeln sich auf aufgebauten Tischen, und Bänke füllen sich zusehends mit Zuschauern. „Ich bekomme wirklich Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass es gleich so weit ist“, sagt Sigrun Rohrbeck und bringt ihren Fotoapparat in Position.

Die 73-Jährige ist gewissermaßen lebenslänglich mit der Kirche verbunden. Hier wurde die Großdobritzerin einst getauft, hier ist sie konfirmiert worden und hier hat sie ihrem Hubert vor 50 Jahren das Jawort gegeben. Ein goldenes Ehejubiläum, welches das Paar am 16. August – natürlich hier in der Kirche – mit einer Einsegnung feierlich begangen hat. Für Sigrun Rohrbeck, die bereits mit zehn Jahren in der Kurrende gesungen und immer aktiv am gemeindlichen Leben teilgenommen hat, geht an diesem Dienstag ein großer Wunsch in Erfüllung. Beinah andächtig streicht sie über ihr Fotoalbum, welches Bilder der Kirche im Wandel der vergangenen Jahrzehnte enthält. Gleich wird sie jene machen können, auf die Großdobritz so lange warten musste.

Und dann setzt sich die Kirchturmspitze tatsächlich in Bewegung. Unter den Augen ihres Architekten Matthias Helm, der seit 2011 an der aus dunkel beschichteten Titanzinkblech gefertigten Bedeckung gearbeitet hat, schwebt sie nach oben. Ganz langsam, scheinbar ohne sich auch nur einen Zentimeter in die falsche Richtung zu drehen, hat sie schließlich um punkt halb zwölf ihr Ziel erreicht. Es ist fast, als ob die Welt unten ein wenig den Atem anhält, bevor in die feierliche Stille plötzlich der erste Ton aus einer Trompete ertönt. Gerd Hackenberg, der seit 55 Jahren im Posaunenchor musiziert, rührt mit seinem Lied viele der Umstehenden zu Tränen. Verständliche Emotionen, die wenig später im lauten Beifall und Jubel wieder in den fröhlichen Dorffestcharakter umschlagen.

„Es ist einfach nur großartig“, freut sich Bürgermeister Steffen Sang und fiebert scheinbar den nächsten Minuten entgegen. Denn noch hat die Großdobritzer Kirche wirklich nicht alles, was sie haben muss. Kurz nach 12 Uhr beginnt sich der Kran aber erneut in Bewegung zu setzen. Dieses Mal befördert er die mit der Sächsischen Zeitung, dem Kirchenblatt, Euromünzen und einem Brief des Pfarrers gefüllte Turmkugel. Einmal befestigt, folgt zum Schluss das 30 Kilogramm schwere goldene Kreuz. Das Gotteshaus ist wieder komplett. „Ein Erlebnis für die Ewigkeit“, raunt ein Mann sichtlich ergriffen seiner Frau zu. Und schaut auf Gisela Fischers Stuhl sitzend weiter unverwandt nach oben. Gen blauem Himmel. Dorthin, wo sie endlich wieder stolz emporragt: Die Großdobritzer Kirchturmspitze. Mit Kugel und Kreuz.