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So haben Künstler die Wende 1989 gesehen

Das Leipziger Bildermuseum zeigt in der Ausstellung "Point of no return", wie  DDR-Künstler die friedliche Revolution und den Anschluss an den Westen reflektierten.

Von Birgit Grimm
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Hans Scheib: „Zweifel“, 1984.
Hans Scheib: „Zweifel“, 1984. © dpa/Willnow

Man kann das Leipziger Museum für Bildende Künste beglückwünschen: Der Zeitpunkt für eine Kunstausstellung, die die deutschen Transformationen seit den 1980er-Jahren bis in die Gegenwart in den Fokus nimmt, könnte nicht passender gewählt sein. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall ist es höchste Zeit, in einer großen Museumsausstellung zu zeigen, wie Künstler in der DDR den Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates reflektierten, mit welchen Ängsten sie sich plagten, mit welchen Widrigkeiten sie klarkommen mussten, wenn sie die gemütliche Stube der staatlichen Alimentierung verließen und ihr eigenes Ding machten, wenn sie in den Westen ausreisten oder wenn sie in der DDR in eine innere Emigration gingen, um Kunst machen zu können, die dem entsprach, was sie sahen, was sie dachten, was sie fühlten.

Alfred Weidinger, der scheidende Direktor des Bildermuseums, hatte die Idee zu der Schau „Point of no return“. Er konnte die Kuratoren Paul Kaiser und Christoph Tannert dazu bewegen, gemeinsam diesen Ritt durch die ostdeutsche Kunstlandschaft der letzten 30 Jahre zu konzipieren. Die beiden, jeder ein Experte auf dem Gebiet der Kunst aus der DDR, waren selten einer Meinung und haben das Feld von verschiedenen Rändern aus beackert. Aber nun, so Tannert, sei man altersmilde. Wenn das für Kuratoren und Künstler gleichermaßen gilt, kann man inzwischen zusammen ausstellen, was zeitgleich entstand. Das Bildermuseum versteckt sich dabei nicht hinter der Ansage, eine rein kulturhistorische Schau zu zeigen, sondern belegt die Vielfalt qualitativ hochwertigen Kunstschaffens von internationalen Rang in der DDR.

Ein Riss geht durch Via Lewandowskys „Berliner Zimmer“ von 2019. 
Ein Riss geht durch Via Lewandowskys „Berliner Zimmer“ von 2019.  © dpa/Sebastian Willnow

Da die Kuratoren selbst in den Bilderstreit involviert sind, wissen sie auch, wie empfindlich manche Künstler darauf reagieren, wenn ihre Werke neben denen der vier Malerfürsten der DDR hängen. Das wird vermieden, indem Willi Sitte, Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer in einem Raum versammelt werden. Unterschiedlich reflektieren sie das Ende der DDR. 

Sitte ist enttäuscht von der Arbeiterklasse und rammt seine einstigen Heroen in den Schlamm. Tübke öffnet die Mauer, sieht den Westen kommen und die Künste in Gefahr. Heisig macht ein Fenster auf, als müsste man nur mal durchlüften. Und Mattheuer, bekannt für seine metaphorisch-gesellschaftskritischen Bilder, malte 1989 eine Menschenmenge, die aus der Enge ausbricht, aber in Panik in eine düstere Zukunft eilt.

Die Kuratoren haben keine chrono- oder sonst wie logische Abfolge eingerichtet, sondern Themen-Räume, in denen mal geografisch sortiert wird („Elbhang und Neustadt“), mal motivisch („Artisten und Masken“), mal politisch („Niemandsland“). Die Räume sind nicht mit oft gezeigten Werken aus Museen bestückt, sondern voll mit unbekannten Arbeiten aus Ateliers oder von Privatsammlern. Hier können auch all jene noch Entdeckungen machen, die einst regelmäßig die DDR-Kunstausstellungen besuchten. Was ebenfalls positiv auffällt, ist die Vielzahl der Künstlerinnen.

Zum Beispiel Doris Ziegler. Niemand sonst bekam einen eigenen Raum in der Schau. Ihre Zyklen „Passage“ und „Übergangsgesellschaft“, die in den 1980er- und 90er-Jahren in Leipzig entstanden, gehören ins Museum, und zwar nicht nur für diese Ausstellung. Doris Ziegler malte zunächst eine schweigende, graue Gesellschaft, sie selbst als Pierrot mittendrin. Die Leute sitzen in einer der Leipziger Innenstadtpassagen. Sie stehen nicht in der Schlange an einem der Geschäfte, sondern verbreiten eine Lethargie, wie sie am Ende der DDR jene erfasste, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten und dann viele Monate auf gepackten Koffern saßen. In dem Bild „Große Passage“ von 1989/90 wandert eine Gruppe über eine Brücke, vollzieht den Übergang in eine neue Welt. Glücklich sehen diese Menschen nicht aus. Ahnen sie, welche Verletzungen dieser Übergang mit sich bringt und dass er Jahrzehnte dauern wird?

Doris Ziegler, „Große Passage“, 1989/90.
Doris Ziegler, „Große Passage“, 1989/90. © InGestalt/Michael Ehritt; © VG Bild-Kunst

Dass im Ziegler-Raum verschämt ein kleines Blatt des 2001 verstorbenen Andreas Küchler hängt, ist unglücklich. Der Dresdner Maler gehört unbedingt in diese Schau. Aber nun wirkt es so, als hätte man ihn vergessen und nachträglich einen Platz für ihn finden müssen. Küchler war einer, der in der „Geschlossenen Gesellschaft“ DDR seine Suche mit Gelassenheit und Witz in Kunst transformierte und sich nicht scherte um das, was andere erwarten könnten von ihm.

Im Hauptsaal treffen Altvordere wie Ralf Kerbach, Wolfgang Smy, Einar Schleef, Hans-Hendrik Grimmling und Frank Seidel auf junge Künstler. Via Lewandowski hat sein „Berliner Zimmer (Geteiltes Leid ist halbes Elend)“ von 2002 noch einmal neu eingerichtet: mit geteiltem Papagei auf der Sessellehne statt mit halbierter Katze auf dem Sofa. Der gebürtige Dresdner vom Jahrgang 1963 ging 1989 in den Westen und reagierte auf die Wiedervereinigung mit Sarkasmus. „Dass für den Vereinigungsprozess niemand einen Plan hatte, dass die Deutschen im wahrsten Sinne des Wortes ,verkohlt‘ wurden, und wir heute an den Folgen neuer Ungerechtigkeiten zu kauen haben, das offenbart der Riss, der durch Lewandowsky Berliner Zimmer geht“, meint Tannert.

Henrike Naumann, geboren 1984 in Zwickau, hat sich in ihrer Arbeit „DDR Noir“ mit der realistischen Malerei ihres Großvaters Karl-Heinz Jakob auseinandergesetzt und damit, dass die DDR-Bürger mit der D-Mark fix ihre Möbel entsorgten und dachten, Billigdesign aus dem Westen wäre eine gute Wahl. David Polzin, 1982 im brandenburgischen Hennigsdorf geboren, feiert die deutsche Einheit ironisch, indem er Stühle aus Bruchstücken ost- und westdeutscher Sitzmöbel neu zusammensetzt. Was nun als vermeintlich gesamtdeutsch auf den Podesten steht, ist eine gelungene Metapher für gebrochene Identitäten. Naumann hat in Dresden studiert, Polzin in Berlin-Weißensee. Beide bedauern sehr, dass in ihrer Ausbildung die Kunstgeschichte der DDR zu kurz kam.

Vor Kurzem starb der Dresdner Lutz Fleischer. Hier sein Gemälde „Trunkenes Paar“ von 1981. 
Vor Kurzem starb der Dresdner Lutz Fleischer. Hier sein Gemälde „Trunkenes Paar“ von 1981.  © InGestalt/Michael Ehrentritt

Die Wissenslücken sind groß, auch beim Publikum. Werden sich die Ostdeutschen noch daran erinnern, wie sie in den Bildern der großen Kunstausstellungen die versteckten Botschaften gelesen haben? Oder haben sie diese Fähigkeit längst verloren? Um ihnen und denen, die es gar nisht wissen können, auf die Sprünge zu helfen, haben die Kuratoren informative Raumtexte und einen Katalog geschrieben, in dem die Geschichten hinter den Kunstwerken erzählt und Interpretationen vorgenommen werden. Wer welche Rolle im Kunstgetriebe der DDR spielte, auch das wird nicht ausgepart. Erinnert wird an den Leipziger Herbstsalon und das Coswiger Festival „Intermedia“, an Künstlergruppen mit ihren waghalsigen Aktionen und wilden Performances. Sachsen war eine „Brutstätte der Grenzüberschreitungen“. Diese Behauptung können viele Künstler mit ihrem Werk, aber auch mit Anekdoten untersetzen. Man muss sie nur fragen. Leipzigs Museumschef Weidinger versprach dafür zu sorgen, dass sich darum gekümmert wird.

Kaiser versteht diese Schau auch als „Offerte an andere Institutionen und an den Kunstmarkt.“ Da die Claims allerdings nach westdeutschen Regeln abgesteckt sind und selbst um Randplätze erbittert gekämpft wird, wäre es an der Zeit, dass wenigstens kunsthistorische Institute und Universitäten ihre Scheuklappen ablegen und sich in Lehre und Forschung auch mit der Kunst aus der DDR als einem gleichberechtigten Teil der deutschen Kunst zwischen 1945 und 1990 beschäftigen. Der deutsch-deutsche Bilderstreit ist nicht beigelegt. Man könnte ihn ohne Kampfvokabular weiterführen. Wenn man will.

„Point of no return“ im Museum der bildenden Künste Leipzig,, Katharinenstr. 10; geöffnet Di und Do – So 10 – 18 Uhr, Mi 12 – 20 Uhr. Eintritt 10/7 Euro, bis zum vollendeten 19. Lebensjahr Eintritt frei, ebenso jeden ersten Mittwoch im Monat. Katalog 45 Euro