Hochsommer glitzerte über dem Land. Das große Blühen der Natur lag
zurück, doch sie schaffte und webte unermüdlich, bis eines Tages die
reifen Früchte hervorleuchten würden. Die Menschen im Elbtal empfanden
die Abendkühle nach den Tagesmühen angenehm und erlösend.
Da plötzlich geschah der Zauber – wie einst im Jahre 350 nach
Christus als es dem Papst träumte, dass bei sengender Hitze Schnee
fiel. Nur der heiligen Maria war es gegeben, solche Wunderdinge zu
vollbringen, und so ging dieses Ereignis als der „Tag Maria Schnee“
in die Gedankenwelt der Leute ein. Im Elbtal aber erhoben sich aus
den sumpfigen Ufersäumen Millionen von kleinen weißen Tierchen in
die Luft und erfüllten sie. Nicht nur Schwärme, sondern dicke Wolken
bildend, ließen sie das andere Ufer nur noch verschwommen erkennen.
Die Dorfbewohner am Strom riefen sich zu: „Der Weißwurm fliegt, der
Weißwurm fliegt.“
Vom Weißwurm gibt es nur eine kurze Geschichte zu erzählen, denn
er gehört zu den Eintagsfliegen. Die Larven leben zuerst im Wasser,
wo sie winzige Höhlchen bevölkern und Jagd auf Kleinlebewesen des
Flusses machen. Im dritten Jahr verpuppen sie sich, um schließlich an
warmen Sommerabenden zu schlüpfen, sich noch einmal zu häuten
und dann in die Luft zu steigen. Das zierliche Insekt sieht nun aus
wie ein schlanker Schmetterling. Die weißen halbdurchsichtigen Flügelchen
sind etwa drei Zentimeter breit. Der ebenfalls weiße Körper
endet in drei dünnen Schwanzborsten, sodass er an die vier Zentimeter
lang erscheint. Während des Hochzeitsfluges und der verbleibenden
kurzen Lebensgeschichte frisst das Tierchen nichts mehr und ist also
dem Tod geweiht.
Wenn der Weißwurm fliegt, bricht für die einheimische Vogelwelt
das Schlaraffenland an, denn was hier an Futtermasse umherschwirrt,
können die kleinen Geschöpfe gar nicht alles vertilgen. Der Mensch
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lernte daraus schnell, und sein Erfindergeist erwachte: Diesen kostenlosen
Segen sollte man nutzen! So erhob sich die einfache Frage, wie
man wohl den Weißwurm einfangen könnte? Und wie es mit vielen
Dingen ist, fand der Wille auch hier einen Weg. Am flachen Ufer rollten
die Leute Steine zusammen, legten alte Bretter darauf und schufen so
künstliche Halbinseln. Dort entzündeten sie aus trockenem Holz hell
leuchtende Feuerchen. Vom Schein angelockt flog nun der Weißwurm
herbei, versengte sich die Flügel und stürzte in den Tod. Jetzt galt es
zu verhindern, dass er ins Wasser fiel. Also breiteten die Fänger an
dünnen Stangen Laken und alle Sorten von Tüchern aus, um die Tierchen
aufzufangen. Nicht lange und Tausende Körperchen sammelten
sich in dicker Schicht an, die vorsichtig zusammengefegt und in Körbe
geschüttet wurde.
Noch ergiebiger erwies sich die Jagd mit den Elbkähnen, wobei sich
besonders die größeren Schifferkinder hervortaten. Vorn im Kahn bauten
sie eine Plattform, die noch weit übers Boot hinausragte, spannten
ihre Tücher aus und entfachten mit Holzspänen und Stroh das lodernde
Feuer. Geschickt steuerten sie dann in die dicksten Schwärme des
Weißwurmes hinein und ernteten reichlich. Die Lichterkette, die im
schwarzen Schatten der Berge flackerte, erinnerte an die romantischen
Berichte über das weltferne Feuerland. Die Kähne, die regellos auf dem
dunklen Strom kreuzten, führten einen Tanz der Irrlichter auf.
Zu Hause streuten die Fänger ihre Beute auf engen Netzen und
Sieben aus, um sie an der Sonne zu trocknen. Der zwölfjährige Ernst
Hiecke aus dem Elbdorf Obergrund fragte seine Großmutter, ob man
denn nicht den Weißwurm im Ofen trocknen könnte, damit es schneller
ginge. Aber die gute Frau antwortete: „Du dummer Junge, Schnee kann
man nicht im Ofen trocknen. Du musst schon Geduld üben.“
In Tetschen-Bodenbach befand sich die Sammelstelle, wo der Weißwurm
aufgekauft wurde. Von allen Seiten kamen die Leute, leichte
Kisten und Körbe schleppend hier an, um gutes Geld einzunehmen.
Ein günstiger Fangabend konnte bis zu vierundzwanzig Kronen erbringen,
und so kam es vor, dass mancher in der kurzen Jagdsaison
wohl 300 Kronen zusammenbrachte. Ein Fabrikarbeiter hätte für eine
solche Summe fast vier Monate arbeiten müssen.
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Gibt es etwas zu verdienen, regt sich sogleich ungeahnter Geschäftssinn.
Im fernen Berlin-Wilmersdorf hatte der Kaufmann Mendel Goldfinger,
der dort eine „Handlung“ betrieb, von dem Weißwurmsegen
gehört. Und wie ein Schmetterling, der den Honigseim auf Meilen
wahrnimmt, reiste der Händler an die Elbe, wo reicher Mammon
winkte. Schnell fand er einen Produzenten, der flache Pappkartons in
beliebiger Zahl herstellte, alsdann hob er die Aufkaufspreise ein wenig
an, und schon florierte das Geschäft vorzüglich. Ganze Berge von seinen
Kartons schickte er per Express nach Berlin.
Man mag sich nun fragen, wer zuletzt das viele Vogelfutter kaufen
würde? Die Antwort findet sich bald: Obwohl die Eisenbahn bereits
fuhr und elektrisches Licht brannte, hielt sich der Hauch der Biedermeierzeit
noch lange, und „Mein Haus – meine Burg“ lebte weiterhin.
Mit der Natur zu fühlen, Ausflüge ins Grüne zu unternehmen und sich
mit Blumen und Blüten zu umgeben, standen hoch in Mode. Auch gab
es kaum eine Wohnung, in der sich nicht wenigstens ein Vogelbauer
befand. Es pfiff, piepte und tirilierte aus allen Stuben. Das ungezählte
gefiederte Völkchen wollte ernährt werden.
Der Schifferjunge Ernst Hiecke hatte voller Eifer drei Weißwurmjagden
mitgemacht und mit Mühe gescheites Geld erworben. Die unbeschwerte
Kinderzeit verflog, und als er 14 Jahre alt geworden war, hieß
es auf Schifffahrt zu gehen. Schifferkorb, Federbett, Latzhosen, Wintermantel,
die Tuchmütze mit dem kurzem Schirm, aber auch ein Paar
Schandauer, wie die unvermeidlichen Filzschuhe hießen, Handschuhe,
einen Kochtopf und eine Pfanne sowie ein Dutzend andere Dinge, die
man im Schifferleben braucht, konnte er vom Weißwurmgeld bezahlen.
An späten Sommerabenden, wenn sich der schwarze Samt der Nacht
über die Welt der Menschen senkte, malte ihm die Erinnerung bunte
Bilder, und Ernst Hiecke sah in Gedanken, wie im oberen Elbtal der
Weißwurm flog.