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Der große Vulkan und das kleine Leben

Der Vulkan von La Palma spuckt Lava, Asche und Rauch. Das ist ein Drama, ein Spektakel – und vielleicht eine Chance. Begegnungen am Fuße des Ungetüms.

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Zerstörerisch und trotzdem faszinierend schön: Asche- und Lavawolken steigen in den Himmel, der Lavastrom wälzt sich den Berg hinab.
Zerstörerisch und trotzdem faszinierend schön: Asche- und Lavawolken steigen in den Himmel, der Lavastrom wälzt sich den Berg hinab. © Kike Rincón/Europa Press/dpa

Von Martin Dahms

Der Himmel ist überwältigend. Der Vulkan hat die Nacht in glutrote Farbe getaucht, wie eine Szene aus „Vom Winde verweht“. Darunter, in der Ebene, liegt friedlich Los Llanos de Aridane, der Hauptort des Inselwestens. Einige wenige Nachtschwärmer sind noch unterwegs. Sie schauen nicht in die Höhe. Ihre Schritte klingen gedämpft, vielleicht von den Ascheresten auf dem Pflaster. Im Hintergrund rumpelt der Vulkan wie ein fernes tosendes Meer. Das ist das Schlaflied der Menschen.

Jeder hier hat eine Geschichte zu erzählen. Am nächsten Morgen erzählt Henry Garritano auf dem gemütlichen Dorfplatz, der Plaza de España, die seine. „Der erste Lavastrom kam praktisch vor der Kirchentür in Todoque zum Stillstand“, berichtet der 60-jährige Architekt. „Gleich hinter der Kirche stand mein Haus, von meiner Mutter geerbt, mit meinem Studio.“ Garritano lacht, er ist der freundlichste Mann, den man sich denken kann. „Wir dachten alle an ein Wunder. Gott hat die Lava aufgehalten! Meine Mutter hat die Lava aufgehalten! Ich habe das wirklich geglaubt.“ Es kam anders. Als sich der Lavastrom wieder in Bewegung setzte, hatte Garritano noch vier Stunden Zeit, die Dinge zu retten, die ihm am meisten am Herzen lagen, Erinnerungsstücke, „die Fotos von Mama und Papa“, ein paar Möbel. Der Vulkan verschlang erst die Kirche und dann sein Haus. Ganz Todoque ist verschwunden.

Garritano hat sich jetzt ein Studio in Los Llanos de Aridane gemietet, fünf Kilometer nördlich vom untergegangenen Weiler Todoque. Nach Zahlen der Inselverwaltung hat der Vulkan seit seinem Ausbruch am 19. September bis heute knapp 1.200 Wohnhäuser und 300 weitere Gebäude zerstört. Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Dann nämlich, wenn sich die Erde nur ein wenig weiter nördlich aufgetan hätte und die Lava so über Los Llanos hinweggegangen wäre. Aber das Schicksal hat gewürfelt und das Städtchen stehen lassen. Es ist jetzt Zufluchtsort statt Ort der Zerstörung.

„Ich bekomme viele Anrufe“, sagt Garritano. Er ist eine kleine Berühmtheit auf der Insel, seit er im Oktober vorschlug, Todoque dort wieder aufzubauen, wo es bis vor Kurzem stand, etliche Meter höher als bisher, auf der irgendwann erkalteten Lava. „Die Dorfnachbarn haben mich gedrängt, etwas zu sagen“, erzählt Garritano. Sie wollten, dass der Architekt ihnen und der ganzen Insel sagt, dass das Leben weitergeht und dass wiederaufgebaut werden kann, was vom Vulkan zerstört worden ist. „Wir brauchen eine mutige Lösung“, sagt Garritano. Vor allem braucht La Palma Leute wie ihn, Leute die Mut machen, wo es leicht ist, den Mut zu verlieren.

Seit zwei Monaten spuckt der namenlose Vulkan im Westen La Palmas Feuer und Rauch und Lava und Asche, und niemand kann sagen, wann er damit aufhören wird. Gut 1.000 Hektar Land hat die Lava bisher unter sich begraben, das sind gut zehn Quadratkilometer, immerhin knapp anderthalb Prozent der Inseloberfläche. Und immer noch nimmt sie weitere Häuser mit.

„Mein Bruder hat seines vor einer Woche verloren“, erzählt Garritano. „Es stand am Rand des Lavastroms, es war davongekommen, und dann ist es doch noch untergegangen. Mein Bruder ist in Therapie nach all dem Stress.“ Garritanos Therapie ist die Arbeit. Aber auch hinter seiner fröhlichen Energie versteckt sich die Traurigkeit. „Wir wollen, dass es aufhört“, sagt er. „Gerade hat sich der Vulkan noch etwas von mir genommen, die Playa de los Guirres. Das war mein Strand, einer der wenigen auf der Insel mit feinem Sand, ein Strand nur für uns, die wir hier leben.“ Die Lava hat ihn überrollt.

Das ist schrecklich. Aber es hat auch seine Faszination. Rüdiger Wastl, Restaurantbetreiber
Das ist schrecklich. Aber es hat auch seine Faszination. Rüdiger Wastl, Restaurantbetreiber © Martin Dahms

Dieser Vulkan ist besonders gefräßig. Sein Kegel bricht immer wieder ein, weshalb sich die Lava immer wieder neue Wege suchen kann. „Sie hat sich auf dem Weg zum Meer auf fast drei Kilometer Breite aufgefächert“, erklärt Juan Carlos Pérez Arencibia, der Verwaltungsdirektor des astronomischen Observatoriums Roque de los Muchachos im Norden der Insel, dem wichtigsten Observatorium Europas. Die Lava macht den Teleskopen auf mehr als 2.000 Metern Höhe nichts aus. Aber die Asche schon, deren feinste Partikel bis nach hier oben aufsteigen. Wenige Tage nach dem Ausbruch schloss das Observatorium. Wer den Berg trotzdem hinauffährt, sieht unter sich eine Wolkendecke und den durch die Wolken hindurchstoßenden Rauchpilz des Vulkans. Noch ein überwältigendes Bild.

Der Vulkan ist ein Spektakel. Aus der Ferne und aus der Nähe, tagsüber und nachts. „Wenn man sich das nachts anguckt …“, Rüdiger Wastl tastet sich mit seinen Worten voran. „Ich sage das sehr ungerne, weil ich weiß, dass das viele Betroffene nicht schön finden … Aber das sieht nachts auch faszinierend aus. Das ist schrecklich. Aber es hat auch seine Faszination.“ Wastl macht es Mühe, das Offensichtliche auszusprechen, weil er den Schrecken mitdenkt. Er hat ihn selbst erlebt. Er verlor sein Haus am ersten Tag, mit allem, was darin war. Was ihm blieb, ist das Restaurant Franchipani, das er auf halbem Weg zwischen dem Vulkan und Los Llanos de Aridane betreibt. Das steht noch und füllt sich wieder ganz langsam mit Gästen. Es hat eine der besten Küchen der Insel.

Wastl stammt aus dem hessischen Dietzenbach, lebt seit 16 Jahren auf La Palma. Er hat Frau und Kind und kennt auf der Insel „echt viele Leute“. Von denen haben 90 Prozent ihr Haus verloren, erzählt er. „Ich habe zwei Freunde, die ihre Häuser noch haben. Alle anderen haben alles verloren.“ Die meisten gerade in den drei Wochen im Oktober, als Wastl mit seiner Familie auf Reisen war, um Abstand zu gewinnen. „Wir haben täglich telefoniert. Es war schlimmer, weg als hier zu sein. Ich konnte niemanden begleiten“, sagt er und bekommt einen Kloß im Hals. Er wollte helfen, so wie ihm selbst geholfen wird. „Man tut, was man tun muss. Helden sind für mich in dieser Zeit die Leute, die herkommen und helfen.“ Er kann vor Ergriffenheit kaum weitersprechen.

Einer derer, die helfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, ist Santiago Tomás Roy. Der Notar aus Fuerteventura ist nach La Palma gekommen, um sich in einem Büro an der Plaza de España in Los Llanos de Aridane um Menschen zu kümmern, denen der Besitztitel ihres vom Vulkan verschlungenen Hauses fehlt. Das wurde hier auf der Insel nie so genau genommen. Die Nachbarn wussten ja, wer was von wem geerbt hatte. „Die Leute kommen weinend hierher“, erzählt der Notar. „Ihnen ist ihr ganzes Leben abhandengekommen.“ Das kann ihnen Tomás Roy nicht zurückgeben. Aber immerhin eine Notariatsurkunde über den verlorenen Besitz. Vor dem Wiederaufbau kommt der Papierkram, anders geht es nicht.

Manche Dinge funktionieren gut, sagt Juan Carlos Pérez vom Observatorium Roque de los Muchachos. Zum Beispiel: „Diese Insel hat 80.000 Einwohner, von denen mussten 7.000 ihr Haus verlassen, fast zehn Prozent. Man muss das in seinen Proportionen sehen.“ Die 7.000 brauchten ein Dach über dem Kopf und fanden es: Viele bei Freunden, einige Hundert sind in Hotels untergebracht. Die meisten hoffen darauf, dass sie in ihre Häuser zurückkehren können, dass der Vulkan ihr Haus nicht doch noch im letzten Moment verschlingt. Solange der Vulkan aktiv ist, ist der Gesamtschaden auf der Insel nicht absehbar.

Wir brauchen für den Wiederaufbau eine mutige Lösung. Henry Garritano, Architekt
Wir brauchen für den Wiederaufbau eine mutige Lösung. Henry Garritano, Architekt © Martin Dahms

Thomas Klaffke hat sich nach Cueva del Agua zurückgezogen, das sind ein paar Häuser an der Nordküste La Palmas, von denen er jetzt eines renoviert. Der Wilhelmshavener betreibt in normalen Zeiten eine Pension, Tom’s Hütte am Meer, in La Bombilla im Inselwesten. Aber schon am Abend des Vulkanausbruchs wurde er dort ausgesperrt. Nachmittags hatte er sein Haus verlassen, und als er abends zurückkehren wollte, ließ ihn die Polizei nicht mehr durch. Risikogebiet. Das ist La Bombilla bis heute geblieben. Klaffke musste zusehen, wie er zurechtkam. „Mein Bekanntenkreis hat sich als Freundeskreis herausgestellt“, sagt er, immer noch mit einer kleinen freudigen Überraschung in der Stimme. Einer dieser Bekannten bot ihm sofort sein Haus fürs erste Bleiben an. Von dort hatte er einen Blick auf den Vulkan wie von einem Logenplatz. „Es ist so gewaltig, es ist so groß, so unglaublich.“

Nach zwei Monaten ist er froh, dass er ihn nicht mehr sehen muss. Eine Berlinerin, die er einst bei sich in der Pension zu Gast hatte, bat ihn, ihr Höhlenhaus herzurichten, das sie sich gerade in Cueva del Agua gekauft hat. „Ich kann alles“, sagt Klaffke. Jetzt arbeitet er hier, wohnt hier, verdient Geld mit der Arbeit und wartet ansonsten darauf, in seine „Hütte am Meer“ zurückkehren zu können.

Alle warten, dass der Vulkan endlich schweigen möge. „Das ist fundamental!“, ruft Jasper Skorzyk aus. „Du kannst vorher überhaupt keine Planung machen. Welche Straßen werden wieder aufgemacht? Welche Landstriche sind überhaupt besiedelbar? Solange das läuft und spuckt, ist es unmöglich, einen Plan zu machen, der weitergeht als übermorgen.“ Skorzyk, gebürtig aus Cuxhaven, betreibt ein Immobilienbüro in Los Llanos de Aridane, Islas Immobilien. Sein eigenes Haus hat er verloren, gleich am ersten Tag. Es stand 100 Meter von der Ausbruchsstelle entfernt, „gefühlt noch näher“, die ganze Familie floh in Panik. Freunde haben ihnen fürs Erste ein Haus in Tijarafe im Nordwesten der Insel zur Verfügung gestellt. Dort im Ort ist auch Rüdiger Wastl vom Restaurant Franchipani untergekommen. Die beiden Männer essen gemeinsam auf dem Dorfplatz zu Mittag.

Skorzyk fragt Wastl: „Hast du schon eine Vorgangsnummer?“ Keiner von beiden hat eine. Sie verzweifeln über die schleppende Bürokratie. „Im Rathaus habe ich an vier verschiedenen Stellen immer wieder die exakt selben Daten abgeben müssen“, klagt Wastl. Nur eine Vorgangsnummer bekam er nicht. Die ersten Menschen verlassen die Insel, weil sie nicht sehen, wie es hier für sie weitergehen soll. Die wenigen Mietwohnungen oder -häuser sind nur für horrendes Geld zu haben.

Aber eine Krise ist kein Grund, alle Hoffnung fahren zu lassen. „Jeder weiß jetzt, wo La Palma liegt“, sagt Skorzyk. „Vorher wussten die in Madrid nicht, dass es La Palma gibt. Inzwischen wissen sie’s in Australien.“ Der Vulkan hat die Insel berühmt gemacht. Jetzt sollen die Menschen aus aller Welt kommen und ihr Geld hier lassen. Ruhig auch jetzt schon. „Wir machen das Notwendige“, sagt Skorzyk zum Abschied. „Nach vorne gucken und schauen, wie unser kleines Leben weitergeht. Es ist ein Desaster. Aber nicht das Ende der Welt.“