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Spaziergang mit Risiken

Die Vermisstenzahlen steigen. Das Thema Sicherheit bewegt auch Pflegeheime. Denn Demente sind oft orientierungslos.

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© André Schulze

Von Alexander Kempf

Die grüne Box ist unbestechlich. Wenn sich ihr ein Dementer mit Sender nähert, riegelt sie die Tür ab. Für den Bewohner des Rothenburger Martinshofes gibt es dann kein Durchkommen mehr. Sicher ist sicher? Bärbel Schuster würde auf das Sicherheitssystem am liebsten ganz verzichten. „Unser Ziel ist es, dass wir das so gut wie nicht mehr machen“, sagt die Bereichsleiterin für Altenhilfe. Die Technik kommt ohnehin nur zum Einsatz, wenn das für einen Patienten gerichtlich angeordnet wird. In den vergangenen zwei Jahren ist das in Rothenburg zur Freude von Bärbel Schuster und anderen Kollegen nicht mehr der Fall gewesen.

Doch die Sicherheit der Bewohner ist und bleibt ein Thema. Allein zwischen Januar und Mai hat die Polizei im Landkreis Görlitz in 210 Vermisstenfällen ermittelt. Das sind fast 30 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Sprecher Tobias Sprunk kann jedoch keine Angaben dazu machen, wie oft dabei nach Dementen gesucht worden ist. Dies würde in der Statistik nicht gesondert erfasst. Zumindest ein Fall aus Rothenburg ist bekannt geworden. Im Mai diesen Jahres haben die Beamten nach einem 72-jährigen Mann gesucht, der auf dem Martinshof vermisst worden ist.

Doch das sei gar kein Bewohner aus dem Wohnbereich Demenz gewesen, erklärt Öffentlichkeitsmitarbeiterin Doreen Lorenz vom Diakoniewerk. Der Beeinträchtige sei nach einem Ausflug nach Polen zudem wohlbehalten zurückgekehrt. Bärbel Schuster, die schon seit 16 Jahren für das Rothenburger Diakoniewerk arbeitet, kann sich in diesem Zeitraum nur an drei Fälle erinnern, bei denen Demente vermisst worden sind. Die letzte Suchaktion sei drei Jahre her. Abgeschlossene Türen sind im Rothenburger Martinshof aber auch künftig keine Option.

„Jeder Mensch hat ein Recht auf Freiheit“, sagt Bärbel Schuster. Die Leiterin für den Bereich Altenhilfe ist eine Verfechterin offener Türen. Doch brauchen Demenzkranke nicht einen besonderen Schutz, damit sie sich nicht in Gefahren begeben? Natürlich, bestätigt Bärbel Schuster. Doch ihrer Freiheit dürfen die Menschen auch nicht beraubt werden. In Rothenburg erhalten die Bewohner daher im Zweifel einen Bewohnerausweis umgehängt. Auf dem Kärtchen sind neben einem Foto auch Name, die Anschrift des Heimes und eine Telefonnummer vermerkt.

„Man muss Leute laufen lassen“, sagt Bärbel Schuster. Denn wenn nicht auf die Bedürfnisse der Bewohner eingegangen werde, könne das zu Stress und Aggressionen führen. Das wäre Gift für das Klima. Wenn die Mitarbeiter stattdessen einen Zugang zu den Bewohnern finden, könnten sie den Bewegungsdrang vieler Dementen beeinflussen. Ziel sei es, dass sich die Betroffenen geborgen fühlen. Dafür müssen sich die Mitarbeiter mit den Biografien der Bewohner und ihren Besonderheiten beschäftigen. Oft sind es Kleinigkeiten, die einen großen Unterschied machen können. Einen ehemaligen Bauingenieur beruhigt vielleicht eine Computertastatur in seinem Zimmer, eine andere Bewohnerin isst gerne vor laufendem Fernseher.

Bärbel Schuster und ihre Kollegen versuchen eine möglichst vertraute Atmosphäre zu schaffen. Trotzdem kommt es vor, dass Bewohner das weitläufige Gelände verlassen. Dann wird auch schon mal die Öffentlichkeit um Mithilfe gebeten. Die Polizei ermutigt Pflegeeinrichtungen, sie zurate zu ziehen, wenn Demente nicht auffindbar sind. „Nach einer ersten kurzen eigenen Absuche im engeren Umfeld des letzten bekannten Aufenthaltsortes und anderer bekannter Anlaufpunkte sollte zeitnah die Polizei eingeschaltet werden“, so Tobias Sprunk.

Zur Vorbereitung einer Öffentlichkeitsfahndung helfe es zudem, wenn der Anzeigenerstatter ein aktuelles Foto der vermissten Person parat hat. Neben der öffentlichen Fahndung setze die Polizei bei der Suche nach Vermissten unter anderem auch auf Fährtenhunde, Durchsuchungen oder Handyortungen.

Moderner Technik bedienen sich auch die Pflegeeinrichtungen, um ihre Bewohner nicht aus den Augen zu verlieren. So arbeitet beispielsweise das Nieskyer Altenpflegeheim „Abendfrieden“ mit Transpondern. „Bei Einverständnis von Bevollmächtigten oder Betreuern erhalten die gefährdeten Personen einen Armbanduhr-ähnlichen Transponder, der an Arm, Bein oder Kleidung befestigt werden kann“, erläutert Leiter Imanuel Vollprecht. Das Personal werde informiert, wenn der Demente sich im Ausgangsbereich der Einrichtung befindet und in Gefahr geraten könnte. „Auf diese Weise erhalten die dementen Bewohnerinnen und Bewohner die Freiheit, sich im ganzen Hause zu bewegen ohne ständig gegängelt zu werden“, so Imanuel Vollprecht.

Er und seine Mitarbeiter können im Zweifel schnell nachschauen und helfen. Mit den Bewohnern wird dann ein kleiner Spaziergang gemacht oder sie werden freundlich zurückgeholt. Das erhöhe die Zufriedenheit der Bewohner. Es kommt aber vor, dass Angehörige mit einer Vollmacht das Heim darum bitten, dass sich Bewohner auch aus der Einrichtung entfernen dürfen. Imanuel Vollprecht und seine Mitarbeiter lassen sich davon trotz anfänglicher Skepsis durchaus überzeugen. „Wir versuchen das, wenn es geht, auch umzusetzen“, sagt der Heimleiter. Der Wille des Menschen sei ein ganz hohes Gut. Doch seine Sicherheit liegt ebenfalls allen am Herzen. „Das ist ein schmaler Grat, der immer wieder ausgelotet werden muss“, sagt er.