Dresden. Gern ist sie unterwegs, lang und allein. Am liebsten sind Ana Zirner die einsamen Touren über mehrere Monate hinweg. Zwei extreme Wander- und Bergsteiger-Solos führten sie über die Alpen von Ljubljana nach Grenoble und vom Mittelmeer über die Pyrenäen zum Atlantik. Im vergangenen Jahr wagte sich Zirner, die einstige Regisseurin und Kulturmanagerin, in neue Dimensionen: den Colorado River komplett. Sie lief, paddelte, kämpfte sich von der Quelle bis zum traurigen Ende des Flusses über 2.333 Kilometer.
Eine Freundin aus Kalifornien hatte von spektakulären Landschaften am Fluss geschwärmt. Zudem besitzt Zirner dank ihres in den USA geborenen Vaters, dem Schauspieler August Zirner, einen US-amerikanischen Pass. Familiäre Wurzeln schaffen innere Verbindungen.
Ihr Vaterland weckt Emotionen – besonders starke, als sie von Donald Trumps Plänen erfuhr, ein Naturschutzgebiet am Colorado für Fracking freizugeben. Da überlegte Zirner, ob sich daraus ein eigenes Projekt machen ließe. Für ein Abenteuer zu Fuß hätte sie Wasserdepots anlegen müssen. Das sei nicht ihre Art. Daraus wuchs aber eine Idee. „Da laufe ich eben am Wasser entlang. So kam ich auf den Colorado“, erzählt die 37-Jährige im Gespräch mit der Sächsischen Zeitung.
„Imposante Kathedralen der Natur“
Der Fluss bietet Extreme. Er fließt in zivilisierten Regionen neben der Autobahn genauso wie auch wild am Grund des Grand Canyons. Der Fluss und die Regionen sind jetzt vom Klimawandel stark betroffen, „woran die Politik in den USA ihren Anteil hat“, beklagt Zirner und erzählt, wie sich ihr Bild vom Fluss unterwegs wandelte wie der Zyklus eines Lebens. „Ich erlebte den Fluss von naiven Anfängen als Kleinkind über wilde Jugend, gediegenes Erwachsensein bis zu Krankheiten im Alter und Tod.“
Die gebürtige Bayerin, die in Oberaudorf am Wilden Kaiser wohnt, weiß nach der dreimonatigen Reise: „Flüsse sind nicht mein Ding. Ich bin ein Kind der Berge und brauche die. Aber ich habe auf der Tour vom Fluss viel gelernt. Die Bewegung mit und in dem Fluss, das Erlebnis Wasser haben meinen Horizont erweitert.“ Berg-Erlebnisse hatte sie trotzdem in den Rocky Mountains, wo der Colorado entspringt.
Mit dem Paddel wagte Zirner als Anfängerin gleich ein großes Projekt. Jetzt staunt sie über sich: „Es war wohl eine notwendige Naivität, so konnte ich offen an alles ran gehen.“ Ihre Strategie: nicht verbissen paddeln und nicht versuchen, perfekt im Boot sein zu wollen. Zunehmend fühlte sie sich sicherer. „Das lässt sich generell als Strategie auf das Leben übertragen“, sagt Zirner.

Ein Vierteljahr täglich eine Ausdauerleistung ist sportlich. Sie steigerte langsam
die Strecken. Aber auf Dauer hatte das Paddeln etwas Eintöniges – „wie das Laufen“,
vergleicht Zirner, die froh war, wenn mal
wieder eine extrem wilde Stelle umgangen
werden musste oder sie Wüsten-Abstecher
zu Fuß machte. Sie genoss es, mit eigener
Körperkraft voranzukommen, selbst wenn
der Fluss mithalf. „Diese körperliche Betätigung in einem Element war so natürlich
und oft euphorisierend. So muss Sport für
mich sein.“ Dabei leistete das aufblasbare
Boot gute Dienste, drei Kilogramm leicht,
zusammenpackbar und trotzdem robust.
Kritisch blicke Zirner auf die massiven Eingriffe, die den Fluss regulieren und „die Natur vergewaltigen“, wie sie sagt, weil das an vielen Stellen überhaupt nicht nötig sei. Dabei ist ihr klar, dass sich schon immer Zivilisationen am Wasser angesiedelt haben. Die Frage sei nur: wie und in welchem Ausmaß. Unterwegs sah sie „imposante Kathedralen der Natur und andererseits die Eindämmung. Der Fluss wird ständig gemolken, bis er als geschundenes Rinnsal versiegt. Und das alles mit dem typisch US-amerikanischen Maßstab, bei dem alles monumentaler ist als in Europa – sogar die Emotionen.“
Sächsische Schweiz ist auch ein Ziel
Wer allein unterwegs ist, erlebt Kontakte mit Menschen als etwas Besonderes. Zirner beschreibt in „Rivertime“ eine Fülle von Begegnungen, Charakteren, Lebensentwürfen, Hoffnungen. Das reicht von international agierenden Klimawissenschaftlern über Umweltaktivisten und Trump-Fans bis zu einem Mann, der davon überzeugt ist, dass die Erde eine Scheibe ist.
„Daran brauchte ich nicht rütteln“, erzählt Zirner und warum die wundersame Begegnung dennoch faszinierend war. „Wer konfrontiert ist mit abwegigen Anschauungen, diese aber verstehen will, erlebt eine Herausforderung, die wertvoll sein kann.“ Sie hörte zu, es machte ihr auch das Phänomen Trump erklärbar. „Das half mir in Zeiten von Ohnmacht, wenn ich aus meiner europäischen Sicht über große Dummheiten meiner Landsleute dachte: Das kann doch nicht wahr sein!“
Aber sie macht es sich nicht leicht mit Urteilen und weiß um das Wertesystem in den USA. Das sei mitunter irritierend. Schockierend empfand die Paddlerin den Umgang mit den Native American, den Ureinwohnern, die noch heute an den Rand gedrängt werden, „als ob sie nicht mehr in diese Welt passen würden“. Zirner spricht auch über Auslöser für diese Entwicklung: „Es waren Europäer, die in die USA gingen und den Einheimischen etwas aufzwangen, was mit einem Leben in und mit der Natur nichts zu tun hat – zumindest nicht so, wie wir es heute verstehen.“

Zirner war überrascht, wie die Trump-Jahre die USA verändert haben. Aber sie
konnte auch ihr Vorurteil vom dummen
Trump-Wähler revidieren, erzählt sie freimütig. „Was ich nicht erwartet hatte, war
die enorme Hilfsbereitschaft. Die lässt sich
nicht vergleichen mit Deutschland.“ Sie
wohnt auf dem Land. Da würde es noch
passieren, dass man um Hilfe fragen kann.
„Aber in den USA ist es wie selbstverständlich“, sagt sie und fügt noch eine Beobachtung hinzu: „Dabei hat es nichts mit den
politischen Einstellungen zu tun oder wie
gebildet jemand ist. Es ist ein grundmenschliches Füreinander. Mir halfen Leute, mit denen ich mich bis aufs Messer über
Trump gestritten hatte.“
Ihr Umgang mit Vorurteilen war eine Selbstentdeckung. „Das US-Amerikanische in mir verschaffte mir einerseits Zugang zu den Menschen“, erklärt sie ihre Situation unterwegs. „Aber andererseits musste ich immer wieder lernen, nicht zu werten, sondern einfach nur zuzuhören oder die Leute anzunehmen. Da machte es oft klick bei mir. Ich muss mich nicht für schlauer halten. Ich habe in dem Vierteljahr gelernt, mich zurückzunehmen und das Anderssein zuzulassen.“ Das hilft ihr inzwischen nun auch in Deutschland bei politischen Diskussionen.

Über gefährliche Momente macht Zirner nicht viele Worte. Es habe mulmige Situationen gegeben, als sie bei einem ihrer
Abstecher bei einem älteren Trucker-Fahrer eingestiegen war, der anzüglich wurde.
Sie drang auf Stopp und stieg aus. Das sei
unangenehm gewesen, aber nicht gefährlich. „In der Natur hätte es schnell kritisch
werden können, wenn ich bei Abstechern
in die Wüste kein Wasser gefunden hätte“,
erzählt sie. „Oder wenn ich in eine Klapperschlange getreten wäre … Aber ich habe instinktiv oft richtig reagiert.“
Das Paddeln will Zirner nicht mehr missen, „aber nicht wieder über mehrere Monate“. Schon ihr diesjähriges Projekt hatte
wieder Berge als Ziel, den Kaukasus von Ost
nach West queren. Corona zwang zur Verschiebung auf Sommer 2021. Sie will noch
vieles entdecken, ohne in Flugzeuge steigen zu müssen. Die Sächsische Schweiz ist
eines dieser Ziele. Und ein Film über das
Colorado-Abenteuer soll bald fertig sein. An
Projekten mangelt es Zirner nicht.
Ana Zirner „Rivertime.
Allein auf dem Colorado von den Rocky
Mountains bis nach
Mexiko“, Piper Verlag
München Malik, 51
Fotos, sechs Karten
288 Seiten, 20 Euro