Dresden. Wenn es so etwas gäbe wie eine Box-Landkarte für Deutschland, wäre die Region in und um Dresden ein ziemlich kahler Fleck. Im Faustkampf taugt die Landeshauptstadt allenfalls als Austragungsort für Profi-Events – etwa mit Jürgen Brähmer, Robert Stieglitz und Dominic Bösel.
Wobei: René Hanl hat 2000 um die WM im Schwergewicht geboxt, allerdings um den Titel des ebenso mysteriösen wie unbedeutenden Weltverbandes WBB. Der mehrfach vorbestrafte Dresdner unterlag dem ebenso unbekannten Kenianer Joseph Akhasamba.
Die Stadt muss allerdings kein weißer Fleck bleiben – und das liegt an Ornella Wahner. Sie errang 2018 als erste und bislang einzige deutsche Kämpferin den Weltmeistertitel im Amateurboxen. In der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm bezwang sie im Finale die Inderin Sonia Chahal mit 4:1 Richterstimmen. „Es ist immer noch sehr schön, wenn ich daran denke. Natürlich brachte das mehr Aufmerksamkeit, auch Sponsoren haben angefragt“, erzählt sie über die Nachwirkungen ihres bislang größten Erfolgs. „Wichtiger ist für mich aber, dass ich eines meiner Lebensziele erreicht habe.“ Frühestens im April kämpft sie bei der Europa-Qualifikation in London auch ums Ticket für die Olympischen Spiele in Tokio. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich dafür mindestens ins Halbfinale kommen muss“, sagt Wahner. Es wird ihre erste sportliche Herausforderung seit mehr als einem Jahr sein. Bei der WM 2019 fehlte sie verletzt, seither ringt sie um Anschluss und Form.
Die Mutti hat Angst um ihre Tochter
„Ich habe in der Leichtathletik beim Post SV Dresden angefangen“, erzählt die jetzt 27-Jährige. „Im Fernsehen habe ich mir aber häufig auch Boxen und Kickboxen angeschaut, das wollte ich gern mal ausprobieren.“ Selbst gegen den Rat ihrer Mama setzte sie ihren Willen durch. „Mutti ist halt Mutti – und hat immer etwas Angst. Das wird auch so bleiben“, erklärt Wahner. „Aber sie ist glücklich, wenn ich auch glücklich bin.“
Sie trat in eine Kampfakademie ein und konzentrierte sich rasch auf nur einen Kampfstil. „Beim Kickboxen geht es meist darum, wer der Stärkere ist. Boxen hat dagegen sehr viel mit Taktik zu tun. Das hat mich mehr gereizt“, betont sie. Große Kämpfe hat sie in und für Dresden jedoch nicht bestritten. „Aber hier war der Ursprung von allem. Ich habe hier so viel Leidenschaft entwickelt“, sagt sie.
Wahner galt als talentiert, sollte aufs Sportgymnasium wechseln. Doch da es in Dresden keinen Stützpunkt im Boxen gibt, wurde ihr dieser Weg verbaut. Als sie zwölf Jahre war, zog die Familie nach Berlin um. Bei den Neuköllner Sportfreunden war sie das einzige Mädchen in einer großen Trainingsgruppe. „Das war nicht ganz leicht. Blöde Sprüche gab es da definitiv. Pubertierende Jungs sind noch ein Stückchen derber“, sagt sie und gibt zu, dass sie das teilweise tief getroffen hat. „Ich war da die kleine Attraktion, das hat man mir am Anfang alles nicht so zugetraut. Da musste ich mir hin und wieder etwas anhören. Natürlich prägt einen das. Ich glaube, das hat mich aber noch stärker gemacht.“
Übungsrunden mit dem Bundestrainer
So stark, dass sie nicht nur ihre sportlichen Ziele verfolgen kann. Als Angehörige einer Sportfördergruppe der Bundeswehr treibt sie ihr Sportstudium an einer kooperierenden Hochschule in Berlin voran. Ihren Lebensmittelpunkt hat Wahner seit 2015 nach Schwerin verlegt. Dort boxt sie unter Anleitung von Bundestrainer Michael Timm. Sie wollte unbedingt bei dem früheren Amateur-Europameister und erfolgreichen Profi-Trainer arbeiten. „Ich fand ihn als Mensch und Trainer einfach grandios“, sagt sie. Ihr Papa lebt weiter in Berlin, die Mama in Radeberg. Wahner selbst tanzt auf vielen Hochzeiten. „Der Sport bestimmt mein Leben“, sagt sie.
Ihrem großen Ziel, den Start bei Olympia, ordnet sie alles unter. „Es ist jetzt als Amateur-Weltmeisterin keine Pflicht, in Tokio dabei zu sein. In allem, was ich mache, geht es mir auch darum, mich selbst zu verwirklichen“, sagt sie. „Olympia ist ein sehr, sehr großer und bedeutender Punkt für mich.“