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Gosens erstaunliche Geschichte

Robin Gosens liefert beim 4:2-Sieg der deutschen Nationalelf gegen Portugal eine Gala - und könnte Deutschlands neuer Fußball-Liebing werden.

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Robin Gosens ist ein Typ wie sein Spiel: klare Kante.
Robin Gosens ist ein Typ wie sein Spiel: klare Kante. © dpa/Philipp Guelland

München. Dieser Typ hat das Zeug zum neuen deutschen Fußball-Liebling. Wenn es Robin Gosens nach seiner Hauptrolle beim 4:2-Sieg der wie entfesselt spielenden Nationalelf gegen Portugal nicht bereits ist. Gosens rannte. Gosens flankte. Gosens grätschte. Gosens riss mit. Gosens bereitete Tore vor. Und Gosens erzielte per Kopf den vierten Treffer selbst. Es war die Krönung eines Spiels, für das nur eine Note möglich war: eine Eins mit Plus.

Die Show des Turnierneulings, der am 5. Juli, dem Tag vorm ersten EM-Halbfinale, 27 wird, war nach dem Abpfiff aber noch nicht vorbei. Gosens trat vor die Kameras. Und das Publikum erlebte einen Pfundskerl, der optisch Lukas Podolski ähnelt und mindestens so frisch daherredet wie einst Liebling „Poldi“. Die Uefa kürte Gosens zum „Star of the Match“. Die Fans skandierten lauthals seinen Namen. „Du kannst mich gern mal zwicken, auch dann glaube ich es nicht“, sagte Gosens zum ARD-Reporter. „Ein emotionales Gefühlschaos“ beherrschte ihn. Eine Mischung aus kindlicher Freude, Stolz und Glückseligkeit. „Dass man für sein Land eine EM bestreiten kann und in so einem Spiel ein Tor schießt, das ist next Level, das ist magisch“.

Und so rührte Gosens seine Eltern Martina und Holger sowie Schwester Chantal auf der Tribüne zu Tränen, sein Handy „explodierte“ ob all der Glückwünsche. Die erste Antwort bekam seine Verlobte Rabea, bei Instagram schrieb Gosens: „Träumen lohnt sich“ – es ist der Titel seiner Biografie.

Kein Mann für eine Schablone

In die gängigen Fußballer-Schablonen passt dieser Gosens nicht. Und viele der mehr als 20 Millionen Fernsehzuschauer – der Marktanteil betrug überragende 75,7 Prozent – dürften erstaunt gefragt haben: Robin – wer? Bis zu seiner Länderspielpremiere am 3. September 2020 beim 1:1 gegen Spanien war der nur Freaks bekannt, die sich Spiele von Atalanta Bergamo in der italienischen Serie A anschauen oder die Champions League im Pay-TV verfolgen. Seitdem gilt er als eines der vielen Experimente von Löw, und sogar Gosens selbst glaubte an einen Scherz.

Doch jetzt hat er sich festgespielt und sich nun in 62 Power-Minuten auf dem Platz sowie beim Interview-Marathon danach einen Namen gemacht. Einfach. Schnörkellos. Zielstrebig. Gosens spricht, wie er spielt. Und er tut es im Trikot mit der 20, die einst auch Podolski trug, als er beim WM-Sommermärchen 2006 mit Bastian „Schweini“ Schweinsteiger zum Lieblingsduo der Deutschen avancierte. Den „linken Huf“ von Podolski hätte er gerne, sagte Gosens. Sein linker Fuß ist auch nicht übel.

„Radio“ Müller den Saft abgedreht

Gosens redet anders als andere Profis. „Affengeil“ fand er den rauschenden Abend in München. Und er hat kein Problem damit, einfach mal live in die TV-Kameras zu sagen, dass ihm bei Toren „einer abgeht“. Zu Reibungspunkten innerhalb der Gruppe bemerkte er: „Man muss sich auch mal auf die Eier gehen.“ An seinem „magischen“ Abend drehte Gosens sogar „Radio“ Thomas Müller eiskalt den Saft ab, der gefrotzelt hatte. Dass Gosens nach „nur“ 60 Minuten vom Platz musste, habe ihn nicht überrascht, „er spielt ja in Italien“, meinte der Münchner – und fing sich den Konter ein: „Besser gute 60 als schlechte 90.“

Gosens hat jetzt neun Länderspiele und zwei Tore. Müller hat 103 und 39 Treffer. Alle im DFB-Tross mögen Robin wegen seiner Art. Er ist der Exot im Kader von Bundestrainer Joachim Löw, der seine Offensive gegen Portugal vor 12.926 Zuschauern in der Münchner Arena endlich von der Leine ließ. „Wir waren mutiger, kreativer und einfach besser“, beschrieb Müller den Spaßfußball, der die Portugiesen zum EM-historischen Eigentor-Doppelschlag durch Ruben Dias und den Dortmunder Raphael Guerreiro zwang.

Gosens bejubelt sein Tor zum 1:4 mit Serge Gnabry.
Gosens bejubelt sein Tor zum 1:4 mit Serge Gnabry. © dpa/Philipp Guelland

Nach dem 3:1 durch Kai Havertz, der ebenfalls eine bemerkenswerte Partie bot, vollendete schließlich Gosens nach Flanke von Joshua Kimmich. Die Flügelzange hatte zugeschnappt. Der neue Hoffnungsträger ist kein Produkt eines Nachwuchsleistungszentrums. Gosens ist der einzige unter den 26 deutschen EM-Spielern, der nie in der Bundesliga gekickt hat. „Als Exot fühle ich mich insofern, dass ich weiß, dass ich einen anderen Weg gegangen bin als alle, die hier dabei sind. Aber in der Truppe fühle ich mich überhaupt nicht als Exot.“

Der Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters ist in Emmerich am Niederrhein geboren. Bei der A-Jugend des VfL Rhede fiel er zufällig einem Scout von Vitesse Arnheim auf und wurde eingeladen. Bei Borussia Dortmund fiel er später im Probetraining durch („Der totale Reinfall“) – aber er ist ja auch Schalke-Fan. Ein Wechsel zu S04 scheiterte 2019 an Atalanta. In Italien startete Gosens durch – bis zu Löw. Das 3-4-3-System scheint der Bundestrainer fast für ihn ersonnen zu haben, denn Gosens kann sich auf seiner Seite ausleben: „Das ist eine Stärke von mir, dass ich am zweiten Pfosten lauern kann und eine Hütte machen kann.“

Und der Bundestrainer schwärmt, wenn er über Gosens spricht: „Als Typ schätzen wir ihn sehr, weil er sehr offen ist, sehr aktiv in der Kommunikation. Er hat einen sehr guten Draht zu allen Spielern, ist klar im Kopf, sehr geradlinig“, meint der Bundestrainer. „Er ist so ein Typ, wie auch sein Spiel ist: Immer klare Kante zeigen, alles in die Waagschale werfen.“ Auf die Frage, ob Gosens am Samstag „das Spiel seines Lebens“ gemacht habe, entgegnete der Bundestrainer entschieden: „Das hat er vielleicht noch vor sich.“ Die EM macht Gosens jedenfalls zu seiner Bühne, zum Schaufenster. (dpa, mit sid)