Seit den Krawallen beim Aufstiegsspiel im Mai ermittelt eine Sonderkommission. Eine Reihe Verdächtige sind identifiziert. Wie machen die Polizisten das?
Ein Raum im Polizeirevier Dresden-Nord. Nur Summen der Rechner und Klickgeräusche von Computermäusen sind zu hören. Schweigend gucken ein Dutzend Polizisten auf Monitore. Lamellenvorhänge schirmen sie vor dem grellen Sonnenlicht draußen ab. Sonst finden hier Besprechungen statt, jetzt sind hier Sonderermittler eingezogen.
Auf dem Bildschirm von Bert Müller* läuft in Zeitlupe eine Videosequenz. Eine Kamera auf dem Dynamo-Stadion hat sie am 16. Mai aufgezeichnet. Es war der Tag des Aufstiegsspiels, an dem es zu den schwersten Krawallen seit Jahren kam. Der Kamerablick geht auf die Kreuzung an der Hauptallee vor dem Stadion.
Müller stoppt das Video mit einem Mausklick. „Hier geht’s los.“ Im Standbild eingefroren ist ein Mann mit schwarzer Jacke und sandfarbener Hose, der mit dem rechten Arm nach hinten ausholt. Eine Dynamo-Strickmütze verdeckt die Haare, eine schwarze Maske vermummt das Gesicht.
Nur die Augen und der obere Teil der Nase sind zu sehen. Müller klickt weiter, Zehntelsekunde für Zehntelsekunde. Ringsum laufen ein gutes Dutzend weitere Vermummte umher, heben Dinge von der Straße auf. „Das da könnte ein Stein sein.“
Der Helikopter zeigt, was wirklich passierte
Müller ist Videoauswerter in der 50-köpfigen Sonderkommission (Soko) Hauptallee, die die Dresdner Polizei nach den Ausschreitungen gegründet hat. 185 Beamte waren dabei verletzt worden, darunter 45 von der Bundespolizei. Auch deshalb hat die Bundesbehörde 14 eigene Spezialisten in die Soko geschickt.
Vor der Soko Hauptallee haben die Videoauswerter in mühevoller Kleinarbeit in der parallel immer noch aktiven Soko Epaulette Bilder aus Überwachungskameras vom Einbruch ins Grüne Gewölbe analysiert.
Enrico Lange ist Chef der Soko. Der 36-jährige Kriminalrat, grauer Anzug, Dienstwaffe unauffällig unterm Sakko, ist aus dem Hauptquartier an der Schießgasse in die Polizeikaserne an der Stauffenbergallee gefahren.
Müller zeigt ihm Bilder des Polizeihubschraubers, der über dem Stadion und dem Großen Garten kreiste. Durch die Vogelperspektive sieht man, wie ab der 70. Spielminute plötzlich eine Menge mit brennenden Bengalos losmarschiert, um zum gesperrten Stadionvorplatz zu gelangen. Es beginnen Angriffe auf Polizisten.
Ein Mann, der eine Art Signal dazu gegeben hat, indem er einem Polizisten in den Rücken getreten hat, ist bereits angeklagt. Kollegen des Verletzten hatten den 34-Jährigen direkt danach festgenommen. „Hier können wir das beschleunigte Verfahren anwenden, weil der Mann an den Ausschreitungen danach nicht mehr beteiligt gewesen sein kann“, sagt Lange.
Videoanalyst Müller wechselt wieder zur Stadionkamera. Lange guckt zu. Klick, klick, klick. Wie bei einem Daumenkino bewegt sich der Arm des Strickmützenträgers nach vorn, in der Hand ist eine Bierflasche zu erkennen. „Jetzt wirft er sie“, sagt Müller. Das Geschoss fliegt in eine Gruppe Polizisten, die sich wegen der Angriffe zwischen zwei Polizeifahrzeuge zurückgezogen hat.
Polizeivideos: 82 Stunden Krawallbilder
Ein zweiter Mann im Bild, kurze Haare, Bomberjacke, Jeans, Turnschuhe, Schal vor dem Gesicht, hält auch eine Flasche in der Hand. Sie schlägt zwischen Autos und Polizisten ein. Ein anderer wirft einen Stein. Der Zeitstempel zeigt 15.57 Uhr. Mehr als 30 Minuten dauern die stundenlangen Krawalle da schon an. Müller speichert die Sequenz.
Drei Täter und drei Straftaten in zehn Sekunden, ein winziger Ausschnitt des Geschehens. Werden die drei identifiziert, müssen sie sich wegen Landfriedensbruchs, versuchter Körperverletzung und Angriffs auf Polizeibeamte verantworten.
Die Videos aus Polizeiautos und von Bereitschaftspolizisten sind so markiert, dass die Auswerter sehen können, in welchem Planquadrat die Aufnahmen entstanden sind. Die Polizei arbeitet mit einem Raster-Stadtplan, der in Felder von 100 mal 100 Meter eingeteilt ist und genaue örtliche Zuordnungen ermöglicht, auch wenn keine Adresse existiert wie im Großen Garten.
Zu jedem Steinewerfer wertet Müller auch Aufnahmen aus den Nachbarquadraten rund um die Kreuzung in der Zeit vor und nach den Würfen aus. Videos aus einem Kameraauto und aus Handkameras eines Polizisten zeigen die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven.
Für jeden Täter erstellen Müller und seine Kollegen aus allen Bildern eine Art „Lebenslauf“ des Tages. Vom ersten Moment, in dem ihn eine Polizeikamera aufgenommen hat, über Social-Media-Videos, die ihn zeigen, bis er das letzte Mal an einer Polizeikamera vorbeigelaufen ist. Alle Aufnahmen zusammen können zeigen, ob jemand im Alkohol- oder Dynamorausch nur einmal kurz ausgerastet ist oder mehrmals an verschiedenen Orten.
Künstliche Intelligenz hilft beim Identifizieren
„Man könnte den Steinewerfer wegen der Körperverletzung vor Gericht bringen. Aber dann kann er, wenn wir auf späteren oder früheren Videos noch einen Landfriedensbruch entdecken, nicht noch einmal angeklagt werden“, sagt Soko-Chef Lange.
82 Stunden Film aus 64 Polizeikameras, dazu Bilder aus öffentlichen Kameras rund ums Stadion, aus Straßenbahnen, Bahnhöfen und Presseveröffentlichungen liegen vor. Insgesamt rund 5,8 Terabyte an Daten. Über das Hinweisportal der Kriminalpolizei sind Bewegtbilder aus sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Youtube eingegangen.
„Eine klassische Spurensuche ist aussichtslos, auch wenn wir ein paar Pflastersteine gesichert haben“, sagt Soko-Chef Lange. Deshalb sind die Bilder so wichtig. Nur mit dem menschlichen Auge ist die Menge nicht zu schaffen. Künstliche Intelligenz macht es möglich.
Aus einem Video vom Aufstiegssonntag, das eine Stunde und 40 Minuten dauert, destilliert sie automatisch 33.000 Gesichter, die mit anderen Videos und Fotos abgeglichen, zusammengefasst und dann abzüglich Unbeteiligter in die Polizeidatenbanken zu bekannten Straftätern eingespeist werden können.
Zentrale Sachbearbeitung heißt das Team mit 15 Leuten, das das Herzstück der Kommission ist. Hier laufen alle Fäden zusammen, werden Spuren, Bilder von Verdächtigen und Erkenntnisse aus den Polizeicomputern zusammengeführt. Hier wird entschieden, welcher Zeuge wann vernommen wird.
Zu jedem Verdächtigen, der namentlich identifiziert ist, wird eine Personenakte angelegt. Im Wochentakt kommen neue Aktenschränke dazu. 140 Ordner sind es bis jetzt.
Fast alle Verdächtigen kommen aus dem „klassischen Dynamo-Einzugsgebiet“, sagt der Soko-Chef. Dresden plus Umland wie die Lausitz und der Landkreis Mittelsachsen, einige aus Südbrandenburg und nur einzelne, die von weiter weg angereist waren wie aus Südfranken oder Berlin.
Hunderte sind bisher nur von Fotos bekannt. Aber selbst die Vermummten können wohl identifiziert werden. Denn vor den Krawallen schwirrten bereits Videos über soziale Netzwerke, in denen die noch friedlichen Anfangsszenen im Großen Garten festgehalten sind.
Hat einer der Vermummten auffällige Merkmale wie Tätowierungen oder auffällige Kleidung, kann über die Bilder von Facebook und Co. vielleicht das passende Gesicht gefunden werden. Die KI kann auch bei eng anliegenden Sturmhauben Konturen erkennen.
Eine Fahndung mit Bildern der 20 mutmaßlich brutalsten Täter auf Plakaten, in Zeitungen und im Internet hat erste Erfolge gebracht. Zehn sind inzwischen bekannt. Eine halbe Stunde nachdem die Fotos veröffentlich waren, sei der erste in ein Dresdner Revier spaziert, sagt Soko-Chef Lange.
Einer stellt sich, weil ihn sonst Freunde anzeigen
Am Nachmittag weitere drei, in den Folgetagen vier. Einer kam nicht ganz freiwillig. Freunde, hatten ihm offenbar deutlich gemacht, dass sie ihn anzeigen würden, wenn er sich nicht selbst stellt. Ende letzter Woche identifizierte die Soko noch zwei Tatverdächtige.
Eine Beamtin in der Zentrale ist auf operative Fallanalyse spezialisiert. Sie verknüpft alle Informationen zu Verdächtigen und entwickelt mit Spezialsoftware eine Systematik, wie Ermittlungsakten einheitlich aufbereitet werden können. Anders wären die Ermittlungen zu den Krawallen kaum zu führen.
„Wir müssen uns permanent koordinieren und absprechen, damit uns möglichst nichts entgeht“, sagt Lange. „Wir reden hier über eine riesige Menge von Tatverdächtigen, das hat es bundesweit bisher kaum in dieser Größenordnung gegeben.“
In einem ständig für eine potenzielle Mordkommission eingerichteten Raum sitzen Fahnder, die Bert Müllers Bilder mit weiteren kombinieren und überprüfen. Darunter auch Experten, die sich mit Recherchen auf Facebook und Co. auskennen und weitere Fotos und Personendaten recherchieren können.
Der wöchentliche Termin mit der Anklagebehörde steht an. Staatsanwältin Marlies Schmidt* und Staatsanwalt Richard Meier* erwarten Lange und eine Kollegin. Es geht um den Ermittlungsstand und darum, wie diese Unmengen an Videos auszuwerten sind. Könnte die automatisierte Personenerkennung in den Bildern ein zu großer Grundrechtseingriff für Unbeteiligte sein?
Langes Kollegin referiert Zahlen. Er sagt: „Ohne Künstliche Intelligenz bräuchten wir für Standbilder jeder Person bis zu fünf Tage und das Programm nur so lange, wie die Videos lang sind.“ Die Staatsanwälte nicken zufrieden. Man ist sich einig. Die Bilder werden gebraucht und Aufnahmen von Unbeteiligten nicht verwendet. Die Staatsanwältin will einen Vermerk für das Gericht schreiben.
Zum Videoauswertungsteam gehört auch Gerald Körner*. Der 44-Jährige ist ein „szenekundiger Beamter“, der an jenem Sonntag in Zivil vor Ort war. Er soll helfen, polizeibekannte sogenannte „Gewalttäter Sport“ zu identifizieren. „Man kennt sich. Meist beschimpfen die uns“, sagt er.
Als Szenekundiger hat er in der Fußballsaison so gut wie kein Wochenende frei. Vor Spielen erstellt er Prognosen, bei den Spielen versucht er, anhand bekannter Gesichter zu prognostizieren, wie sich die Lage entwickeln könnte, danach wertet er die Einsätze aus und sucht Straftäter auf dem Bildmaterial der Polizeieinsätze. Von der Gewalteskalation im Mai wurde aber auch Körner überrascht.
Videos für den Richter
Bert Müller sucht derweil schon die nächsten Videos der drei Gewalttäter. Videos abspielen, Szenen und Perspektiven finden, in denen Verdächtige Steine oder Flaschen werfen oder Polizisten körperlich angreifen, passende Perspektiven aus anderen Videos aufspüren. Einzelbilder in einer Fotodatei sammeln und wie im Fernsehstudio alles zu einer Sequenz zusammenschneiden. Die kann am Ende auch dem Richter vorgelegt werden, falls es Zweifel im Prozess gibt.
Für Müller und seine Kollegen sind das jeden Tag acht Stunden Arbeit am Bildschirm. Abends fernsehen ist für ihn längst kein Thema mehr. „Die Videoauswertung ist zwar eine enorme Belastung, aber gibt uns andere Möglichkeiten als noch vor 20 Jahren. Damals hätten wir nur zu den 40 am Tattag Festgenommenen ermitteln und vielleicht noch das Umfeld befragen können. Aber heute wird ja überall und dauernd von fast jedem irgendetwas gefilmt.“
Die Ermittlungen werden sich nicht nur einige Monate hinziehen. „Wir haben uns Zwischenziele gesteckt, erst die Top 20, dann die Top 50 und am Ende mutmaßlich Hunderte, die sich für ihre Taten am Stadion verantworten müssen“, sagt der Soko-Chef. Aber nicht nur die Gewalttäter selbst.
„Wer mit Steinewerfern mitgeht, wird bei den Ermittlungen bewertet, als hätte er selber geworfen.“ Es geht schließlich auch darum, künftige Krawalle dieser Dimension zu verhindern.