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Auf der Spur der Dynamo-Gewalttäter

Seit den Krawallen beim Aufstiegsspiel im Mai ermittelt eine Sonderkommission. Eine Reihe Verdächtige sind identifiziert. Wie machen die Polizisten das?

Von Tobias Wolf
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Steine und Flaschen fliegen am 16. Mai vor dem Dynamo-Stadion auf Polizisten. Nun wird gegen hunderte Gewalttäter ermittelt.
Steine und Flaschen fliegen am 16. Mai vor dem Dynamo-Stadion auf Polizisten. Nun wird gegen hunderte Gewalttäter ermittelt. © dpa/Robert Michael

Ein Raum im Polizeirevier Dresden-Nord. Nur Summen der Rechner und Klickgeräusche von Computermäusen sind zu hören. Schweigend gucken ein Dutzend Polizisten auf Monitore. Lamellenvorhänge schirmen sie vor dem grellen Sonnenlicht draußen ab. Sonst finden hier Besprechungen statt, jetzt sind hier Sonderermittler eingezogen.

Auf dem Bildschirm von Bert Müller* läuft in Zeitlupe eine Videosequenz. Eine Kamera auf dem Dynamo-Stadion hat sie am 16. Mai aufgezeichnet. Es war der Tag des Aufstiegsspiels, an dem es zu den schwersten Krawallen seit Jahren kam. Der Kamerablick geht auf die Kreuzung an der Hauptallee vor dem Stadion.

Müller stoppt das Video mit einem Mausklick. „Hier geht’s los.“ Im Standbild eingefroren ist ein Mann mit schwarzer Jacke und sandfarbener Hose, der mit dem rechten Arm nach hinten ausholt. Eine Dynamo-Strickmütze verdeckt die Haare, eine schwarze Maske vermummt das Gesicht.

Nur die Augen und der obere Teil der Nase sind zu sehen. Müller klickt weiter, Zehntelsekunde für Zehntelsekunde. Ringsum laufen ein gutes Dutzend weitere Vermummte umher, heben Dinge von der Straße auf. „Das da könnte ein Stein sein.“

Der Helikopter zeigt, was wirklich passierte

Müller ist Videoauswerter in der 50-köpfigen Sonderkommission (Soko) Hauptallee, die die Dresdner Polizei nach den Ausschreitungen gegründet hat. 185 Beamte waren dabei verletzt worden, darunter 45 von der Bundespolizei. Auch deshalb hat die Bundesbehörde 14 eigene Spezialisten in die Soko geschickt.

Vor der Soko Hauptallee haben die Videoauswerter in mühevoller Kleinarbeit in der parallel immer noch aktiven Soko Epaulette Bilder aus Überwachungskameras vom Einbruch ins Grüne Gewölbe analysiert.

Bert Müller* wertet in der Sonderkommission Hauptallee die Videos vom Einsatztag aus und destilliert die entscheidenden Momente, um Gewalttäter zu überführen.
Bert Müller* wertet in der Sonderkommission Hauptallee die Videos vom Einsatztag aus und destilliert die entscheidenden Momente, um Gewalttäter zu überführen. © Tobias Wolf

Enrico Lange ist Chef der Soko. Der 36-jährige Kriminalrat, grauer Anzug, Dienstwaffe unauffällig unterm Sakko, ist aus dem Hauptquartier an der Schießgasse in die Polizeikaserne an der Stauffenbergallee gefahren.

Müller zeigt ihm Bilder des Polizeihubschraubers, der über dem Stadion und dem Großen Garten kreiste. Durch die Vogelperspektive sieht man, wie ab der 70. Spielminute plötzlich eine Menge mit brennenden Bengalos losmarschiert, um zum gesperrten Stadionvorplatz zu gelangen. Es beginnen Angriffe auf Polizisten.

Ein Mann, der eine Art Signal dazu gegeben hat, indem er einem Polizisten in den Rücken getreten hat, ist bereits angeklagt. Kollegen des Verletzten hatten den 34-Jährigen direkt danach festgenommen. „Hier können wir das beschleunigte Verfahren anwenden, weil der Mann an den Ausschreitungen danach nicht mehr beteiligt gewesen sein kann“, sagt Lange.

Videoanalyst Müller wechselt wieder zur Stadionkamera. Lange guckt zu. Klick, klick, klick. Wie bei einem Daumenkino bewegt sich der Arm des Strickmützenträgers nach vorn, in der Hand ist eine Bierflasche zu erkennen. „Jetzt wirft er sie“, sagt Müller. Das Geschoss fliegt in eine Gruppe Polizisten, die sich wegen der Angriffe zwischen zwei Polizeifahrzeuge zurückgezogen hat.

Polizeivideos: 82 Stunden Krawallbilder

Ein zweiter Mann im Bild, kurze Haare, Bomberjacke, Jeans, Turnschuhe, Schal vor dem Gesicht, hält auch eine Flasche in der Hand. Sie schlägt zwischen Autos und Polizisten ein. Ein anderer wirft einen Stein. Der Zeitstempel zeigt 15.57 Uhr. Mehr als 30 Minuten dauern die stundenlangen Krawalle da schon an. Müller speichert die Sequenz.

Drei Täter und drei Straftaten in zehn Sekunden, ein winziger Ausschnitt des Geschehens. Werden die drei identifiziert, müssen sie sich wegen Landfriedensbruchs, versuchter Körperverletzung und Angriffs auf Polizeibeamte verantworten.

Die Videos aus Polizeiautos und von Bereitschaftspolizisten sind so markiert, dass die Auswerter sehen können, in welchem Planquadrat die Aufnahmen entstanden sind. Die Polizei arbeitet mit einem Raster-Stadtplan, der in Felder von 100 mal 100 Meter eingeteilt ist und genaue örtliche Zuordnungen ermöglicht, auch wenn keine Adresse existiert wie im Großen Garten.

Vor dem Stadion stehen sich am 16. Mai Polizisten und Gewalttäter gegenüber, die eine Barrikade aus Bauzäunen errichtet haben und die Beamten mit Flaschen- und Steinwürfen anzugreifen.
Vor dem Stadion stehen sich am 16. Mai Polizisten und Gewalttäter gegenüber, die eine Barrikade aus Bauzäunen errichtet haben und die Beamten mit Flaschen- und Steinwürfen anzugreifen. © Sebastian Kahnert/dpa

Zu jedem Steinewerfer wertet Müller auch Aufnahmen aus den Nachbarquadraten rund um die Kreuzung in der Zeit vor und nach den Würfen aus. Videos aus einem Kameraauto und aus Handkameras eines Polizisten zeigen die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven.

Für jeden Täter erstellen Müller und seine Kollegen aus allen Bildern eine Art „Lebenslauf“ des Tages. Vom ersten Moment, in dem ihn eine Polizeikamera aufgenommen hat, über Social-Media-Videos, die ihn zeigen, bis er das letzte Mal an einer Polizeikamera vorbeigelaufen ist. Alle Aufnahmen zusammen können zeigen, ob jemand im Alkohol- oder Dynamorausch nur einmal kurz ausgerastet ist oder mehrmals an verschiedenen Orten.

Künstliche Intelligenz hilft beim Identifizieren

„Man könnte den Steinewerfer wegen der Körperverletzung vor Gericht bringen. Aber dann kann er, wenn wir auf späteren oder früheren Videos noch einen Landfriedensbruch entdecken, nicht noch einmal angeklagt werden“, sagt Soko-Chef Lange.

82 Stunden Film aus 64 Polizeikameras, dazu Bilder aus öffentlichen Kameras rund ums Stadion, aus Straßenbahnen, Bahnhöfen und Presseveröffentlichungen liegen vor. Insgesamt rund 5,8 Terabyte an Daten. Über das Hinweisportal der Kriminalpolizei sind Bewegtbilder aus sozialen Medien wie Facebook, Twitter oder Youtube eingegangen.

„Eine klassische Spurensuche ist aussichtslos, auch wenn wir ein paar Pflastersteine gesichert haben“, sagt Soko-Chef Lange. Deshalb sind die Bilder so wichtig. Nur mit dem menschlichen Auge ist die Menge nicht zu schaffen. Künstliche Intelligenz macht es möglich.

Aus einem Video vom Aufstiegssonntag, das eine Stunde und 40 Minuten dauert, destilliert sie automatisch 33.000 Gesichter, die mit anderen Videos und Fotos abgeglichen, zusammengefasst und dann abzüglich Unbeteiligter in die Polizeidatenbanken zu bekannten Straftätern eingespeist werden können.