Wie Dynamo mit der Bürde des Haushochfavoriten umgeht

Dresden. Am Tag vor dem Saisonauftakt wächst die Spannung ohnehin, Dynamo befeuert sie noch. In den sozialen Medien veröffentlicht der Zweitliga-Absteiger ein geheimnisvolles Video, in dem sich der Ukrainer Kyrylo Melichenko mit vier Worten bei Dynamo bedankt und das Friedenssymbol in einer Handfläche in die Kamera hält. Die Botschaft dahinter soll lauten: Alle Formalitäten mit den Behörden und seinem Ex-Verein sind geklärt, der 23-jährige Außenverteidiger darf künftig nicht mehr nur Testspiele für die Schwarz-Gelben bestreiten, ist der 13. Neuzugang des Sommers.
Abgesehen von diesem Transfer, der gefühlt keiner ist, da Melichenko bereits Ende März vor dem Krieg in seinem Heimatland geflüchtet war und seitdem bei den Dresdnern trainiert, gibt der Verein keine weiteren Informationen heraus. Stürmer Stefan Kutschke war bis Donnerstag in Corona-Quarantäne, sollte sich laut Trainer Markus Anfang am Freitag versuchen freizutesten. Das Ergebnis? Wird nicht bekannt gegeben. Ebenfalls am Freitag haben die beiden Torhüter Sven Müller und Stefan Drljaca erfahren, wer von ihnen die neue Nummer eins wird. Auch diese Entscheidung bleibt geheim.
1860 München, der Auftaktgegner vom Samstag, soll so wenig wenige Informationen wie möglich erhalten. Immerhin durfte er erfahren, dass die angeschlagenen Panagiotis Vlachodimos, Paul Will, Yannick Stark und Jongmin Seo definitiv fehlen werden, den langzeitverletzten Luca Herrmann vergaß Anfang bei seiner Aufzählung. Ein Quintett wird also nicht dabei sein, mit Kutschke sind es vielleicht sogar sechs Spieler. Doch das klingt dramatischer, als es tatsächlich ist.
Dynamo bei Wettanbieter der Meisterfavorit
Mit 31 Profis hat der Drittligist einen großen und fast schon aufgeblähten Kader. Er ist nach Ansicht von 19 der 20 Drittliga-Trainer wohl auch der stärkste. Bis auf Anfang, der sich generell nicht äußern wollte, nannten in einer Umfrage des Internetportals Liga3-Online alle Dynamo als Aufstiegskandidaten. Beim Wettanbieter Bwin gibt es den kleinsten Gewinn, wenn man auf Dynamo als Drittliga-Meister tippt. Selten zuvor gab es einen klareren Favoriten.
Der vermutlich größte Etat, das mit Abstand größte Stadion, das größte Fanpotenzial – es gibt noch weitere Faktoren, die für den sofortigen Wiederaufstieg der Dresdner sprechen. Cheftrainer Anfang hält davon allerdings wenig. „Favorit ist man, wenn man Woche für Woche die Leistung abruft und nicht, wenn man von Außen dazu ernannt wird“, erklärt er. „Ein langfristiges Ziel erreicht man nur über viele Etappenziele.“ Die Verantwortlichen wehren sich, die Rolle des Ligakrösus anzunehmen – wohl aus Sorge, dies könnte einen zusätzlichen Druck erzeugen. Die Spieler gehen damit zum Teil lockerer um, Neuzugang Christian Conteh etwa versprach beim Fanfest den Anhängern sogar den Aufstieg.
Bei der Umfrage wie den Wettquoten waren die letzten beiden Neuzugänge noch nicht mal bekannt, vor allem die Verpflichtung von Stürmer Manuel Schäffler, der von Zweitligist Nürnberg kam, dürfte Dynamos Primus-Rolle festigen. Falls Kutschkes Test nicht rechtzeitig einen negativen Befund anzeigt, könnte Schäffler bereits am Samstag zu seinem Startelf-Debüt kommen. Geplant war das so natürlich nicht. „Er hatte in der Vorbereitung keine Chance, mit uns zu trainieren“, erklärt Anfang, verweist zugleich aber auf die Erfahrung des 33-Jährigen. Das Zusammenspiel mit den neuen Kollegen dürfte anfangs trotzdem etwas haken.
Melichenko, der einen Zweijahres-Vertrag unterschrieb, hat gute Chancen, einen Stammplatz auf der rechten Seite zu ergattern. In den letzten Tagen konnte sich Dynamo mit den Behörden und wohl auch finanziell mit dem ukrainischen Erstligisten FK Mariupol einigen, wo der Abwehrspieler noch bis 2023 gebunden war. Sein Heimatort und das Vereinsgelände wurden nahezu vollständig zerstört. Aus dem humanitären Hilfsangebot ist ein Transfer geworden – inwieweit das bei Dynamo von Beginn an im Hinterkopf eine mögliche Option war, darüber lässt sich nur spekulieren.
Melichenko muss nicht der letzte Neuzugang bleiben, das Transferfenster schließt erst Ende August. „Wir haben uns einen gewissen Puffer erhalten, um uns noch auf einer Position verstärken zu können“, erklärt Anfang. „Es wäre fatal, wenn wir jetzt nicht mehr handlungsfähig wären.“ Er will jedoch erst einmal die ersten Spiele abwarten und „schauen, wie sich die Mannschaft entwickelt“. Womöglich wird also noch mal nachjustiert – das könnte auch die Abgänge betreffen, um den Kader zu verschlanken.