Dresden. Das englische Championship-Spiel zwischen Leeds United und Aston Villa aus dem Jahr 2019 - es geht für Leeds um den Aufstieg in die Premier League. Villa-Profi Jonathan Kodjia liegt nach einem Foul verletzt auf dem Boden, seine Mitspieler stellen das Fußballspielen ein. Doch Leeds macht weiter - und schießt ein Tor.
Die Spieler von Aston Villa protestieren, es kommt zu Handgreiflichkeiten und einer Roten Karte. An dieser Stelle stoppt Erik Guth das Video, das in einem kleinen Raum im Rudolf-Harbig-Stadion läuft - direkt neben dem Platz auf dem Dynamo Dresden seine Heimspiele in der 3. Liga bestreitet. "Was ist da falsch gelaufen?", fragt Guth, der als Projektkoordinator des vom Fanprojekt Dresden getragenen Lernzentrums Denkanstoß arbeitet.
Die Workshop-Teilnehmer, Schüler der Dresdner Förderschule Marienberger Straße mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung im Alter von 15 bis 17 Jahren, überlegen.
"Es ist okay, Fehler zu machen"
"Die anderen hätten auch eine Rote Karte bekommen sollen", sagt ein Schüler. "Vielleicht, aber ist eine Strafe die einzige Lösung?", entgegnet Guth. Es folgt nachdenkliche Stille. "Ich finde es nicht gut, dass die sich gekloppt haben", wirft der 16- jährige Niko ein. "Das stimmt, aber manchen fällt es schwer, ihre Emotionen zu kontrollieren. Wie geht ihr damit um, wenn sowas passiert?", erwidert Sozialpädagoge Guth. "Sich entschuldigen?", so der Tenor der Schüler.
"Super! Jeder macht mal Fehler, ist wütend und macht dann etwas Dummes. Das ist okay. Wichtig ist, sich nicht nur zu entschuldigen, sondern für seine Fehler geradezustehen, daraus zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen", schließt Guth seine Lektion ab.
Das Video läuft weiter. Die Leeds Spieler haben ihren Fehler eingesehen, bleiben nach dem Anstoß auf Anweisung des Trainers regungslos stehen, lassen Villa Stürmer Albert Adomah mit dem Ball am Fuß vorbeilaufen. Der erzielt ein Tor, Endstand 1:1 - ein Symbol für Fair Play.
Lernort Fußballstadion
Um Fair Play geht es auch in diesem zweitägigen Workshop des Lernzentrums Denkanstoß im Rudolf-Harbig Stadion, das vor elf Jahren als soziale Initiative des Fanprojekts Dresden entstand. Das Fanprojekt wurde 2003 noch unter anderem Namen zur Verringerung und Eindämmung von Gewalt rund um Fußballspiele in Dresden gegründet. Der sozialpädagogisch geführte Verein engagiert sich in der Fansozialarbeit und als Träger der freien Jugendhilfe. Finanziert wird das Projekt durch die Stadt Dresden, den Freistaat Sachsen sowie vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL).
Ziel des Lernzentrums ist es, jungen Menschen wichtige demokratische Werte zu vermitteln. In verschiedenen Workshops und Projektwochen beschäftigen sich Kinder und Jugendliche mit Themen wie Diskriminierung, Fair Play sowie Gewalt- und Konfliktprävention. "Das Lernzentrum ist ein machtfreier Ort, in dem die Jugendlichen frei und ohne Beurteilung ihre Meinung äußern dürfen", sagt Projektkoordinator Guth. Es soll ihnen möglich gemacht werden, ihr eigenes Handeln zu reflektieren und zukünftig mit Konflikten in der Gruppe besser umzugehen.
Dass sich das Lernzentrum Denkanstoß direkt im Fußballstadion von Dynamo Dresden befindet, ist kein Zufall - sondern Teil des Konzepts. "Dresden ist eine fußballverrückte Stadt, die Identifikation mit dem Verein ist stark. Das ist für uns ein riesen Vorteil", erklärt Guth. Dadurch würden die jungen Menschen, die an Workshops des Lernzentrums teilnehmen, eine größere Motivation mitbringen. "Die Kinder und Jugendlichen haben Bock das Stadion von innen zu sehen, etwas über Dynamo Dresden zu hören und lassen sich so viel mehr auf die schwierigen Themen ein, die wir besprechen", so der Sozialpädagoge. Die Atmosphäre sei von vornherein eine ganz andere, als in der Schule. Die Schüler zeigten sich in diesem Rahmen offener dafür eigene Probleme zu benennen und anzugehen.
"Sonst stelle ich nie Regeln auf"
Den Sport nutzt Guth ebenfalls, um Teamfähigkeit und Toleranz für jede Persönlichkeit zu schaffen. Zu Beginn eines jeden Fair-Play-Workshops legt die jeweilige Klasse selbstständig Mannschaftsregeln fest, an die sie sich während der zwei Tage im Rudolf-Harbig-Stadion, aber auch später in der Klasse halten wollen. In Spielen werden die Regeln gefestigt. Das kommt auch bei den Schülern der Förderschule an der Marienberger Straße gut an. "Ich durfte mal die Regeln machen und alle haben sich daran gehalten - das war toll", sagt eine 15-jährige Schülerin, die sich zu Beginn des Workshops eher zurückhaltend zeigt, aber mit der Zeit immer mehr aufblüht.
Und genau das ist das Ziel. "Wir versuchen Gruppenmuster, die sich in der Schule entwickelt haben, zu durchbrechen. Hier hilft die ungewohnte Umgebung. Kinder und Jugendliche, die im starren Schulsystem in ihrer zurückhaltenden Rolle gefangen sind, spielen sich hier in den Vordergrund. Das konnte ich schon ganz oft beobachten", verdeutlicht Guth.
Wie aus Einzelkämpfern Teamplayer werden
Ratlos stehen die Schüler vor einer Matte auf dem Boden, einen Leimstift in der Hand. Ihre Aufgabe: Den Stift so weit wie möglich im hinteren Teil der Matte platzieren, ohne eine Linie vorne auf der Matte zu übertreten. Einzelkämpfer versuchen sich zu strecken, während der Rest des Teams daneben steht. Es ist erfolglos. "Was bräuchtest du um weiterzukommen?", fragt Guth. "Hilfe", sagt der 16-jährige Niko. Ein Teammitglied packt ihn hinten am Shirt, ein anderer hält seinen Arm. Gemeinsam stellen die Jugendlichen den Klebestift weit hinten auf die Matte. "Zusammen geht es wohl doch besser", gibt Niko zu und schaut etwas zerknirscht auf den Boden.
"Es gibt Schüler, die ausgegrenzt werden und deswegen kein Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten haben. Hier im Lernzentrum ist das Team gefragt. Sie müssen mitgenommen werden und erfahren, dass sie mehr können als sie sich selbst zugetraut hätten", schwärmt Klassenlehrerin Stephanie Trogisch vom Angebot des Fanprojekts. Sie hat die Klasse Anfang des Schuljahres übernommen. Ihr fehlte es an Zusammenhalt innerhalb der kleinen Gemeinschaft von neun Schülern und Schülerinnen. Deshalb meldete sie die Gruppe für den Workshop "Fair Play" des Lernzentrums an.
Keine Workshops vom Fließband
Die Workshops sind für alle Schulformen offen, ob Gymnasium, Ober- oder Förderschule. Sie werden je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Schule angepasst. "Hier kommt nichts vom Fließband. Die Schulen wenden sich mit einem konkreten Problem in einer Klasse an uns und wir passen den Workshop entsprechend an", betont Guth.
Neben dem Fair Play Workshop, den die Schüler der Förderschule Marienberger Straße besuchten und der für Kinder und Jugendliche ab der dritten Klasse konzipiert ist, bietet das Lernzentrum unter dem Namen "Gewalt im Abseits" einen Workshop zu Gewaltprävention sowie den Workshop "Der Ball ist bunt" zum Thema Diskriminierung an. Beide sind für Jugendliche ab der siebenten Klasse geeignet. Und auch darin spielt der Fußball natürlich eine zentrale Rolle.