Dresden. Als das Desaster in der Grotenburg seinen Lauf nimmt, sitzt Jörg Klimpel in der Gaststätte Bastei an der Prager Straße in Dresden. Mit Karsten Petersohn, der wie er bei Dynamo gespielt hatte, gönnt er sich ein Bier nach dem Sieg und hört dabei die Reportage im Radio. Mit Fortschritt Bischofswerda hatten sie das Nachholspiel beim Halleschen FC mit 2:0 gewonnen und die Tabellenführung in der DDR-Liga, Staffel Süd, gefestigt.
Dieser Abend des 19. März 1986 hätte für Klimpel aber auch ganz anders laufen können: Europapokal, Dynamo führt im Rückspiel bei Bayer Uerdingen zur Pause mit 3:1, doch nun muss Torwart Bernd Jakubowski wegen einer schweren Schulterverletzung raus, der Ersatzmann rein.
Und das war eben Klimpel – bis zum Sommer 1985. „Sie hatten mir heimlich Jens Ramme als Ersatztorwart untergejubelt, bloß weil sich Klimpel, der genauso gut war wie Jakubowski, mit Westverwandten in der Tschechoslowakei getroffen hatte“, schilderte der damalige Trainer Klaus Sammer später die ungewöhnlichen Umstände. Es waren zwar keine Familienangehörigen, die Klimpel in Karlovy Vary (Karlsbad) getroffen hat, sondern Freunde, denen ein Jahr zuvor die Ausreise aus der DDR offiziell genehmigt worden war. Aber die Geschichte stimmt.
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„Als wir an der Grenze kontrolliert wurden, hatten wir Fruchtzwerge-Joghurts und Bananen dabei. Das reichte den Genossen“, erzählt Klimpel. „Ich wurde zurück nach Dresden und direkt zum Verhör gefahren, meine Frau Eveline und unser damals zwei Jahre alter Sohn Sten nach Hause.“ Über die Aussagen bei der Stasi und das, was sie in seiner Akte festgehalten haben, will der 64-Jährige heute nicht mehr reden. „Sie hatten große Angst, dass einer abhaut. Aber so etwas hatte ich nie und nimmer vor“, sagt er dazu nur.
Klimpel ist damals sofort klar, dass mit dem Vorfall seine Zeit bei Dynamo abgelaufen ist, er meint allerdings auch, dass er sowieso abgeschoben werden sollte. „Ich war nur vier Jahre jünger als Jaku, sie wollten einen jüngeren Torwart als Nachfolger aufbauen. Verständlich.“ Ramme war 23 und kam vom Zweitligisten BSG Glückauf Sondershausen nach Dresden. Dynamo hatte extra einen „Unterhändler“ nach Thüringen geschickt, der sich jedoch nicht traute, ihn im Kabinengang persönlich anzusprechen. „Seine Tochter kam zu mir, bat mich um ein Autogramm und sagte: Mein Vater von Dynamo Dresden würde sich gern mit Ihnen draußen auf der Straße unterhalten“, erzählte Ramme in einem früheren Gespräch mit der SZ.
"Die wahren Gründe unter den Tisch gekehrt"
Er ergriff die Chance, während Klimpel wie erwartet bei Dynamo aufhören musste und eigentlich nie wieder in der DDR-Oberliga spielen sollte. „Ich ging also nach Bischofswerda, die Gründe hat man unter den Tisch gekehrt. Es wurde öffentlich wie ein normaler Wechsel dargestellt, damit es keine Fragen gibt“, sagt er. Im Sommer 1976 war der talentierte Torhüter vom Nachwuchs des BFC Dynamo aus Berlin nach Dresden gekommen, blieb aber bei den Schwarz-Gelben nur der Stellvertreter.
Deshalb wollte Klimpel eigentlich schon 1984 weg, Trainer Sammer legte sein Veto ein. „Ich war zwar nicht sein Favorit, aber er sagte: Ich brauche eine starke Nummer zwei, wir spielen schließlich im Europapokal“, erinnert sich Klimpel. Der schlaue Chefcoach wollte für den Fall gewappnet sein, der zwei Jahre später tatsächlich eintreten sollte.
Ramme hat noch kein einziges Pflichtspiel für Dynamo bestritten, als er in Uerdingen plötzlich ins Tor muss. „Ich spürte, dass meine Mitspieler kein Vertrauen zu mir hatten. Sie wollten mich unterstützen – und zogen sich immer weiter zurück“, erklärte er die Situation und meinte: „Ich hatte ständig das Gefühl, es stehen noch drei Feldspieler hinter mir auf der Torlinie.“
Dynamo wird in der zweiten Halbzeit buchstäblich auseinandergenommen, kassiert sechs Tore, geht mit 3:7 unter und scheidet nach dem 2:0 im Hinspiel und der 3:1-Führung zur Pause krachend aus – die Schmach von Uerdingen ist besiegelt, Dynamos schmerzlichste Niederlage der bald 68 Jahre langen Vereinsgeschichte.
Bei ein, zwei Gegentreffern hätte er sicher glücklicher aussehen können, meinte Ramme selber, aber als den Sündenbock lässt er sich nicht hinstellen. „Die Grundeinstellung stimmte nicht. Das Spielfeld wurde immer kleiner und der Druck zu groß. Erfahrene Spieler wie Dixie Dörner hätten dagegen steuern müssen. Aber auch sie agierten plötzlich ängstlich.“
"Seine Vorderleute haben ihm auch nicht geholfen"
Auch Klimpel sieht den Torwart nicht alleine verantwortlich für das Debakel. „Er war sicher nervös, aber seine Vorderleute haben ihm auch nicht geholfen“, meint der verhinderte Ersatzmann. Schadenfreude habe er definitiv nicht empfunden. „Ich habe mit den Jungs doch zusammengespielt, hatte eine schöne Zeit in Dresden. Ich durfte zweimal im Europacup und in 21 Punktspielen auflaufen, saß bei drei Pokalendspielen in Berlin auf der Bank – immer gegen meinen Ex-Verein, den BFC, und wir haben immer gewonnen. Das bleibt unvergesslich.“

Während Dynamo mit Ramme im Tor die Saison enttäuschend auf Platz sechs beendete, schaffte Klimpel mit Bischofswerda den Aufstieg. „Wir waren eine gute Truppe, und ich hatte auch das Glück, dass sie mich ein paar Mal angeschossen haben“, meint er scherzhaft zu seinem Anteil am Erfolg. Nur ein Jahr nach seiner Verbannung war er also wieder zurück in der Oberliga. „Dabei hatten wir einen drin, der wäre am liebsten nicht aufgestiegen“, erzählt Klimpel, ohne den Namen zu nennen. „Er sagte: Wir müssen mehr als fünf Punkte holen, mehr als Suhl. Ich will nicht, dass wir als schlechteste Mannschaft in die Geschichte eingehen.“ Motor Suhl hatte 1984/85 von 26 Spielen 22 verloren.
Bischofswerda startete im August 1986 mit einem torlosen Unentschieden ins große Abenteuer – und das ausgerechnet gegen Dynamo. „Sagen wir es mal so: Mich brauchte keiner zu motivieren“, meint Klimpel, seine Sperre für die höchste Spielklasse wurde stillschweigend aufgehoben. „Da war Ruhe im Schiff.“ Bischofswerda holte 17 Punkte, einen zu wenig für den Klassenerhalt. Trotzdem sagt Klimpel: „Es war sensationell, was wir geleistet haben.“
Die Freunde helfen beim Neustart im Westen
Er wechselte jedoch nach Cottbus, weil ihm bei Energie eine berufliche Perspektive im Trainerstab in Aussicht gestellt wurde. „Es tat mir weh, aus Schiebock wegzugehen, aber meine Frau erwartete unsere Tochter Aline, mit zwei Kindern hast du eine Verantwortung. Ich musste an die Zeit nach der Karriere denken“, sagt Klimpel. Die Wende kam dazwischen.
Mit seiner Familie zog er in den Westen, die Freunde, mit denen sie sich in der Tschechoslowakei getroffen hatten, halfen beim Neustart in Stettfeld bei Bamberg. Dort arbeitet er als Versicherungsfachmann und Bankbetreuer, seine Frau ist Baby-Fotografin. Mit dem Fußball und Dynamo hatte Klimpel noch einmal kurz zu tun, als eine südamerikanische Spielerberater-Agentur mit Sitz in Buenos Aires eine Filiale in Deutschland aufbauen wollte. Er half, Kontakte zu deutschen Vereinen zu knüpfen, stieg aber schnell wieder aus.
Über die Frage, wie es gelaufen wäre, wenn sie ihn damals nicht mit Fruchtzwergen und Bananen erwischt hätten, mag er sich nicht den Kopf zerbrechen. „Vielleicht wäre ich 1989 mit Dynamo Meister geworden, vielleicht hätte mich aber auch die Straßenbahn am Fucikplatz überfahren“, meint er – und lacht.
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