RB-Coach Marsch: Der unterschätzte Neue

Leipzig. Deutscher könnte ein Nachname kaum sein. Der Marsch, egal ob als Musikgattung oder Gangart, symbolisiert sehr präzise die Eigenheiten dieses Landes: Exaktheit, Disziplin, Pünktlichkeit, Ernsthaftigkeit – zumindest aus Sicht vieler Nichtdeutscher. Jesse Marsch hat erst vor drei Jahren beim Vokabelpauken erfahren, was sein Name bedeutet. „Es ist nicht das schönste Wort, aber ich kann damit leben“, sagt der 47-Jährige. Sein Großvater stammt aus dem Sauerland.
Marsch selbst ist US-Amerikaner, das hört man, das spürt man – auch in seiner neuen Rolle als Cheftrainer beim Fußball-Bundesligisten RB Leipzig. Er sieht nahezu alles positiv, lobt, lacht. Das meistbenutzte Wort bei den Einheiten ist „super“. Diese Energie soll anstecken, soll sich übertragen auf eine Mannschaft, der nach dem Wechsel von Startrainer Julian Nagelsmann zum FC Bayern und den Abgängen der hochtalentierten Verteidiger Dayot Upamecano sowie Ibrahima Konate nicht mehr so viel zugetraut wird wie in der vergangenen Saison. Da wurden die Leipziger Vize-Meister und standen im Finale des DFB-Pokals.
Unterschätzt zu werden, ist eine Rolle, die Marsch mag. Daraus zieht er Motivation, die nutzt er, um seine Spieler anzutreiben. Im Internet kann man sich ein Video anschauen, das zeigt, wie er 2019, damals noch Trainer bei RB Salzburg, in der Halbzeit-Pause des Champions-League-Spiels gegen Jürgen Klopps FC Liverpool beim Stand von 1:3 das Team einschwört, endlich den Respekt vor dem Gegner abzulegen.
Er fragt zunächst in die Runde, wieviele Fouls der Schiri gegen sie gepfiffen hätte und bekommt als Antwort ein oder zwei. Die Zahl greift er auf, sie steht am Anfang einer emotionalen Ansprache, bei der er ständig das Tempo erhöht und schließlich komplett in seine Muttersprache landet. Salzburg gleicht nach der Pause zum 3:3 aus, ein Treffer erzielt Erling Haaland. Am Ende verlieren die Österreicher unglücklich mit 3:4 an der Anfield Road.
"Nicht meine, sondern unsere Mannschaft"
Das Beispiel zeigt, dass Marsch alles andere ist als der nette, immer lächelnde Fußballonkel. Er will seine Nebenleute begeistern, sie anstecken. Dahinter steht eine Philosophie. „Die Menschlichkeit steht bei mir an Nummer eins“, betont er bei seiner Vorstellung in Leipzig. „Einen klaren Plan zu haben, ist wichtig. Aber entscheidend sind die Menschen, sie müssen Leidenschaft leben. Wir müssen eine starke Gruppe sein und im Spiel füreinander da. Und: Es ist nicht meine Mannschaft, sondern unsere Mannschaft.“
Ihn zu unterschätzen, wäre tatsächlich ein Fehler. Marsch studierte an der Princeton University Geschichte, nach 14 Jahren als Mittelfeldspieler in der Major League Soccer stieg er als Co-Trainer bei der US-Nationalmanschaft ein. Nach der Station bei Montreal Impact holte ihn Oliver Mintzlaff, damals Fußballchef im Red-Bull-Imperium, heute Geschäftsführer in Leipzig, als Chefcoach zu RB New York – gegen den Widerstand im Vereinsumfeld.

Mit einer stark verjüngten Mannschaft gewann Marsch auf Anhieb den Titel der Eastern Conference, erhielt die Auszeichnung zum Trainer des Jahres und überzeugte seine Kritiker. Ähnlich war es in Salzburg, wo ihn Fans mit dem Plakat „Nein zu Marsch“ empfingen. In den zwei Jahren dort wurde er dann zweimal Meister und zweimal Pokalsieger.
Dass Mintzlaff nach dem vorfristigen Abschied von Nagelsmann erneut auf Marsch setzt, ist also logisch. In Leipzig muss er keine feindliche Stimmung fürchten, ein wenig Skepsis ist allerdings schon zu spüren. Nach den prominenten Trainernamen Ralf Rangnick und Nagelsmann ist Marsch für viele der große Unbekannte und die Frage schwingt mit: Kann das gutgehen mit einem, der vorher noch nie Cheftrainer in der Bundesliga oder einer anderen Top-Liga war?
Ein Urlaub veränderte sein Leben
Wobei: In seinem neuen Umfeld kennt er sich bestens aus. Vor seiner Salzburg-Station war Marsch für eine Saison in Leipzig der Assistent von Rangnick. „Ich hatte hier viel Spaß, und dass mir Stadt, Verein, Fans und einige Spieler bereits vertraut sind, ist sicher ein Vorteil“, findet er. „Jetzt fühle ich von Beginn an mehr Respekt als bei meinen vorherigen Stationen. Das ist zwar schön, aber eigentlich mag ich die Position als Underdog lieber.“
Vor drei Jahren war er noch mit seiner kompletten Familie nach Leipzig gezogen, zu der neben Ehefrau Kim eine Tochter und zwei Söhne gehören. Von den drei Kindern ist nun nur noch ein Sohn mitgekommen, die beiden anderen Kinder studieren. „Das ist vielleicht schade für meine Frau, weil sie jetzt so viel Zeit mit mir verbringen muss“, witzelt Marsch. „Aber ich bin inzwischen ein alter Mann.“
Das ist natürlich reichlich übertrieben, Erfahrungen hat er jedoch schon einige gesammelt, nicht nur auf dem Platz. Vor seinem Engagement in New York unternahm er mit seiner Familie eine Weltreise – 32 Länder in sechs Monaten. Dieser Urlaub habe sein Leben verändert, sagt er rückblickend. „Ich habe in dieser Zeit gelernt, dass es viel wichtigere Dinge als Fußball gibt und ich mir nicht mehr so viel Stress machen darf. Für mich war danach die Devise, dass es vor allem darum geht, die Menschen gut zu behandeln und aus ihnen das Beste herauszuholen.“
Name nicht nur deutsch, sondern auch Programm
Das Beste für Leipzig wäre der erste große Titel, mit Nagelsmann war RB vergangene Saison in Liga und Pokal jeweils Vize – das ist zwar gut, doch das Brauseunternehmen möchte endlich einen Pokal präsentieren. Bei Nagelsmann hatte man den Eindruck, als würde er die Mannschaft mit seinen Ideen teilweise überfordern, in den Spitzenduellen gegen die Bayern und Dortmund scheiterte er mit taktischen Überraschungen. In der Bundesliga kassierten die Rasenballer zwar die wenigsten Gegentreffer, waren aber in der Offensive viel zu harmlos.
Das soll Marsch ändern – mit Neuzugang André Silva, der für Frankfurt vergangene Saison 28 Tore erzielt hatte. Und mit einem Fußball, der wieder mehr der RB-DNA ähnelt: Die Jungs hätten bei ihm viele Freiheiten, aber alles müsse mit viel Intensität und Aggressivität passieren. Das garantiere auch mehr Tore, verspricht er.
Man könnte es auch so formulieren: Unter Marsch müssen die Jungs marschieren. Dann wäre der Name nicht nur sehr deutsch, sondern auch Programm.