Krieg, Weltrekorde, Dynamo im Europacup - die Geschichte des Dresdner Steyer-Stadions
Dresden. Hundertjährige verdienen höchsten Respekt. Sie haben Glanz und Gloria erlebt und weniger schöne Momente. Im richtigen Leben sieht man ihnen das Alter auch an, eine Auferstehung in neuer Schönheit ist unmöglich. Bei Stadien ist das anders, wie das Dresdner Steyer-Stadion gerade zeigt.
Vor 105 Jahren hatte am 12. Oktober der Dresdner Sport-Club die Fußballer vom VfB Leipzig eingeladen zum Eröffnungsspiel im neuen Stadion. Die Gastgeber verloren 0:1. Zur Stadionweihe gab es auch Hockey: DSC gegen Dresdner HC 1:4. Die Freude über die Spielstätte währte nicht lange. Ein Brand zerstörte 1928 die Holztribüne. Der Schock wich schnell dem Aufbauwillen. Ein Jahr später stand die neue Steintribüne, ein Holzbau gegenüber wurde 1930 mit der Fußball-Auswahl eingeweiht. 50.000 bejubelten den 5:3-Sieg der Deutschen über Ungarn. Bei einem zweiten Länderspiel 1935 sahen 62.150 den 2:1-Sieg gegen die Tschechoslowakei. Das gilt als Zuschauer-Rekord im Stadion.
Der Sportbau erlangte im 2. Weltkrieg verhängnisvolle Bedeutung: Er diente 1945 als Orientierung für anglo-amerikanische Bomber. „Die Ziel- und Leuchtbombe ging dort nieder“, berichtet Karl Schreiber. Der 88-Jährige hatte das Inferno im Keller seines Elternhauses in Dresden-Strehlen erlebt. „Uns erzählte Lies Krüger, dass im Gelände des Ostra-Geheges 17 Bomben einschlugen. Das Stadion selbst blieb von schweren Kriegsschäden verschont.“ Krüger, Speerwurf-Olympiazweite 1936, spielte auch Tennis, Handball und Hockey. Da lernte Schreiber sie kennen. Er begann 1950 bei Lok Dresden mit Hockey, war Stammspieler bis zur Oberliga, Mannschaftskapitän, Schiedsrichter, 48 Jahre Sektionsleiter.
Erstes Flutlicht-Spiel in Deutschland
Der Sport-Liebhaber sah in jungen Jahren auch Richard Hofmanns Abschiedsvorstellung im Stadion mit dem neuen Namen Heinz Steyer, einem kommunistischen Fußballspieler, der 1944 hingerichtet worden war. Das Spiel gilt als erste Flutlicht-Begegnung in Deutschland. Am Silvestertag 1949 gewann die SG Friedrichstadt, der DSC-Nachfolger, 2:0 über eine DDR-Auswahl. Bei den Dresdnern war der damals 43-jährige Hofmann eingewechselt worden – die Verabschiedung einer Legende. „25.000 Zuschauer waren neugierig darauf, was da passierte“, erinnert sich Karl Schreiber. „Mit heutigen Konstruktionen lässt sich das Flutlicht nicht vergleichen. Da hingen Baustellenlampen an Holzmasten. Wir fanden es hell, es muss aber ziemlich duster gewesen sein. Wir waren begeistert.“
Ein halbes Jahr zuvor hatte er das letzte Endspiel um die Ostzonen-Meisterschaft mit 50.000 Zuschauern besucht. Dabei stand Dresden gar nicht im Finale, sondern Union Halle und Fortuna Erfurt. Noch mehr lockte das Fußball-Skandalspiel an, die entscheidende Begegnung am letzten Oberliga-Spieltag am 16. April 1950, als die SG Friedrichstadt auf Horch Zwickau traf. 60.000 Zuschauer sahen strittige Schiedsrichter-Entscheidungen bei der 1:5-Niederlage der Dresdner. Der DSC-Nachfolger galt als bürgerlicher Verein, die Zwickauer als Betriebssportler. „Auf der Steintribüne saß Polit-Prominenz“, berichtet Karl Schreiber. „Die ergriffen Partei für den Arbeitersport. Die Stimmung auf den Traversen wirkte angespannt. Danach gab es Krawalle vor dem Stadion.“
Viel friedlicher ging es bei der Friedensfahrt zu. Als Dresden 1955 erstmals Etappenort war, zog es 60.000 Menschen ins Steyer-Stadion. „Da mochte man vorher alles geklärt haben“, spielt Karl Schreiber auf schwierige Toilettengänge an. „Dicht an dicht standen wir auf den Rängen, da war kein Durchkommen. Ich sah, wie sich Zuschauer-Wellen bis zur Absperrung runter bewegten. Dort soll es Rippenbrüche gegeben haben. Wellenbrecher wurden später eingebaut.“ Alle seien auf „Täve“ fixiert gewesen. Doch Radsport-Idol Gustav-Adolf Schur, der am Ende erstmals die Gesamtwertung gewann, war auf der Ostra-Allee gestürzt.
Vier DDR-Länderspiele im Steyer-Stadion
Der Zweitplatzierte Emil Reinecke startete im DDR-Team und war dort einer von zwei Westdeutschen. Der Niedersachse stand an einem denkwürdigen Tag auf dem Podest neben Sieger Verhelst aus Belgien – am 8. Mai. Augenzeuge Schreiber erinnert sich: „Genau zehn Jahre nach Kriegsende wurden viele Reden gehalten, es war aber auch ein Volksfest. Tausende blieben noch Stunden nach dem Sprint um den Etappensieg im Stadion, bis die Letzten das Ziel erreichten.“
Ihm war bewusst, dass sein Hockey als Randsportart galt. Aber auch die schaffte es ins Steyer-Stadion. Vor dem Skandalfinale mit Friedrichstadt gab es ein Frauen-Hockey-Spiel. Fußballer blieben lange die Zugnummern mit DSC, SG Friedrichstadt, SG Deutsche Volkspolizei, dem Vorgänger von Dynamo Dresden, sowie SC Einheit, später FSV Lok. Selbst Dynamos Europacup-Premiere 1967 gegen Glasgow Rangers sahen 38.000 Fans im Steyer-Stadion – obwohl es 1957 den Umzug ins Harbig-Stadion gegeben hatte.
Die DFB-Auswahl hatte im November 1941 den letzten ihrer vier Stadion-Auftritte im Ostra-Gehege, die DDR-Elf bestritt dort ebenfalls vier Länderspiele. 1953 sahen 55.000 ein 0:0 gegen Bulgarien – das erste Heim-Länderspiel der DDR-Kicker. Es war der dritte Auswahl-Auftritt und der erste, der nicht verloren wurde. 1954 und 1959 stieg das Finale im FDGB-Pokal in Sichtweite der Yenidze.
Kurios: Die Weltmeisterschaft der Sportangler
Auf dem Rasen rollte nicht nur der Fußball. So sahen 40.000 Zuschauer 1959 den innerdeutschen Vergleich der Handball-Männer auf dem Großfeld. Dort trugen auch die Handballerinnen das Finale um die DDR-Meisterschaft 1961 aus, 1963 und 1965 zudem die Männer. Exotisch mutet der Auftritt der Sportangler an, die 1961 ihre Weltmeister im Stadion ermittelten. „Wir haben uns damals lustig gemacht über Trockenangeln“, erzählt Karl Schreiber, fügt aber sofort an: „Doch es war eine WM, das machte einen stolz, dass die DDR so ein Ereignis ausrichten durfte.“ Helga Wischer gewann mit drei Weltrekorden.
Noch mehr kam das Steyer-Stadion durch 13 Leichtathletik-Weltrekorde in die Schlagzeilen, aufgestellt von DDR-Frauen nach 1972, als das Stadion eine Tartanbahn erhalten hatte. Bei sechs DDR-Meisterschaften, Länderkämpfen oder bei den Goldenen Ovals startete Weltklasse. Nach der Wende endete diese Tradition. Tristesse und Verfall machte sich breit. Nach der Flut 2002 entstanden zwar neue Flutschutzmauern, die marode, baupolizeilich gesperrte Holztribüne wich einem Neubau. Doch erst jetzt erstrahlt das Steyer-Stadion nach komplettem Umbau in neuem Glanz, wo Traditionen neu aufleben könnten.