Dresden. Wenn es am schönsten ist, so das Sprichwort, soll man aufhören. Oder wie im Fall von Simon Wulff, zumindest die Sportart wechseln. Die Geschichte des Noch-Sprinters ist fast drehbuchreif. Zur Wiedereröffnung des Heinz-Steyer-Stadions läuft er das letzte Rennen seiner Tartanbahn-Karriere - am Ort seiner Jugend, vor Familie und und Freunden.
Die Sprinter beschließen den Abend, der schon jetzt bewiesen hat: Leichtathletik und Dresden - das passte nicht nur in den 1970er- und 80er-Jahren zusammen. Es ist mucksmäuschenstill, bevor die schnellen Männer den neuen Sprintkönig beim Goldenen Oval küren. Und dann siegt vor 10.000 Zuschauern Kanadas Staffel-Olympiasieger Jerome Blake in 10,01 Sekunden - das ist neuer Stadionrekord.
Nur fünf Hundertstel langsamer ist Simon Wulff als Zweiter. Seine 10,06 bedeuten nicht nur Bestzeit im letzten Rennen, sondern die viertschnellste Zeit, die jemals ein Deutscher gelaufen ist. "Ich war mindestens zehn Jahre beim DSC, da war klar, dass hier der beste Ort ist, um einen würdigen Abschluss in der Leichtathletik zu finden. Dass es so schnell geht, ist für mich aber unbegreiflich", sagt der Dresdner und schwärmt von einem seiner "schönsten Wettkämpfe".
Dennoch steht sein Entschluss fest, und darüber dürften jetzt einige Verantwortliche im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) die Stirn runzeln. Der 2,02-Meter-Mann wechselt in den Bob, gehört zum Team von vierfachen Olympiasieger Francesco Friedrich. "Da muss man immer schnell sein", weiß er. "Für jeden Sportler, der viel erreichen will, ist Olympia das größte Ziel. Und wenn es über den Weg geht, dann eben so."
Friedrich, der das Rennen im Stadion filmte, ist von seinem neuen schnellen Mann im Team angetan. "Das ist eine Wahnsinnsleistung", findet der 34-Jährige, der als Kind mit Leichtathletik begann und im alten Stadion noch Wettkämpfe absolvierte - nur weniger erfolgreich. "Ich weiß noch, wie ich nach meinem Cooper-Test vor 20 Jahren oder noch länger zurück mal fast zusammengebrochen bin."
Und der Rekord-Weltmeister aus Pirna staunt über den Sportbau. "Wir brauchen solche Anlagen, um im Sport wieder Vorbilder zu kreieren", sagt er, "um überhaupt wieder ein gesundes Vorbild für die Menschheit zu haben." Wie sein Idol Michael Schumacher ist Friedrich ein Niezufriedener - und wurde so der Beste seines Sports und ein großes Vorbild.
Simon Wulf übersteht erste Bobfahrt ohne Übelkeit
Um mit 34 Jahren weiter vorn zu fahren, braucht er immer wieder schnelle Anschieber und dürfte mit Wulff den nächsten Glücksgriff gelandet haben. Auch Martin Grothkopp, einst 400-Meter-Läufer beim DSC, war in Friedrichs Bob gewechselt und hatte ihn 2018 zum ersten Vierer-Olympiasieg angeschoben.
"Der Weg von Leichtathletik in den Bobsport ist bekannt, allerdings nicht so in der Blüte der Leichtathletik-Zeit", meint Wulff selbst angesichts seiner Top-Form. Der 23-Jährige, der seit einigen Jahren für Bayer Leverkusen startet, studierte und lebte zuletzt in Amerika.
Als er Weihnachten zurück in der Heimat war, traf er beim Training in der DSC-Halle Alexander Schüller, Anschieber im Friedrich-Bob. "Und er meinte aus Spaß: Hey, wenn du Bock hast, mal was anderes zu machen, kommst du vorbei. Und wenn so eine Einladung vom Team Friedrich kommt, lässt man sich das nicht zweimal sagen."
Wulff überstand die Premierenfahrt ohne Übelkeit und blaue Flecken. "Das passt", meint auch Friedrich. Trainer Gerd Leopold half dem Sprinter in seiner Verletzungszeit, besorgte einen MRT-Termin bei einem Arzt in München, als die Beugesehne im linken Bein gerissen war. Nach einer Operation im Januar ging es aufwärts.
Wechsel in den Bob - abgesichert durch die Bundespolizei
Seit Sommer trainierte Wulff schon regelmäßig bei Friedrich. "Ab dieser Woche ist er komplett bei uns", meint der Pilot. Bis zur ersten Bobfahrt am 30. Oktober stehen noch zwei Anschubtests an. "Mit den athletischen Zubringerleistungen wird er das definitiv dort machen", ist Friedrich überzeugt. "Selbst wenn er als Neueinsteiger noch nicht ganz vorn ist, wäre das gar kein Stress. Es ist schon noch ein harter, steiniger Weg, aber ich bin mir sicher, dass wir den meistern werden."
Der Plan ist, dass Wulff anfangs mit Alexander Czudaj im Europacup fahren soll. "Für mich heißt es jetzt, ein Jahr Praxis sammeln und dann voll angreifen." Olympia 2026 in Cortina d’Ampezzo ist das große Ziel. Seit August hat Wulff eine Stelle bei der Bundespolizei in Bad Endorf und hat damit eine finanzielle Absicherung sowie eine berufliche Perspektive, die der DLV vermutlich nicht in Aussicht stellen konnte.
Der Wechsel von der Bahn in den Eiskanal fühlt sich für Wulff richtig an. Als Dresdens 100-Meter-Sieger Blake neben dem Lokalmatador dann gefragt wird, ob er sich das auch vorstellen könnte, lacht er: "Wir haben in Kanada viele gute Bobfahrer, aber für mich ist das nichts. Ich schaue lieber zu, wie Simon erfolgreich fährt und komme wieder nach Dresden." Auch das ist eine Ansage.