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Missbrauch von Wasserspringer Jan Hempel: "Alle haben geschwiegen"

Der frühere Dresdner Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel berichtet, wie ihn sein Trainer jahrelang sexuell missbraucht hat – und warum er dem Verband schwere Vorwürfe macht.

Von Henry Berndt & Ines Mallek-Klein & Michaela Widder
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Jan Hempel am Donnerstag im Freibad Miltitz bei Meißen, wo der 50-Jährige als Bademeister arbeitet.
Jan Hempel am Donnerstag im Freibad Miltitz bei Meißen, wo der 50-Jährige als Bademeister arbeitet. © Claudia Hübschmann

Acht Schritte nach vorn. Für einige Sekunden verharrt er regungslos, den Blick fokussiert nach unten gerichtet, im Hintergrund das Panorama von Barcelona. Es sind die Olympischen Spiele 1992. Dieser Sprung vom Turm muss sitzen, wenn es für ihn noch etwas mit der Medaille werden soll. Nach der Pflicht deutete noch vieles auf einen Zweikampf an der Spitze zwischen Jan Hempel und dem Chinesen Sun Shuwei hin. Doch seit dem Beginn der Kür zeigt der Dresdner Nerven. Kämpft er sich noch einmal zurück? Nein.

Sein dreieinhalbfacher Auerbach-Salto endet mit einem Bauchklatscher. "Oooh", ruft der Fernsehkommentator. Am Ende wird Hempel Vierter und zeigt sich maßlos enttäuscht. "Im Ansatz erwischte ich den Sprung so gut wie noch nie, sodass ich mit den Drehungen viel zu früh fertig war", analysiert der 21-Jährige sein Missgeschick.

Heute, 30 Jahre später, müssen die Fernsehbilder von damals in einem ganz anderen Licht betrachtet werden. In einer Dokumentation der ARD spricht Jan Hempel erstmals darüber, dass er jahrelang von seinem Trainer Werner Langer missbraucht worden sei. Auch unmittelbar vor dem Wettkampf 1992 in Barcelona sei Langer mit ihm in eine Toilettenkabine gegangen und habe ihn dort vergewaltigt, berichtet Hempel. Dadurch sollte er "lockerer" werden, habe der Trainer ihm gesagt.

"Mein Vertrauen erschlichen": Jan Hempel (l.) 1987 als Nachwuchstalent mit seinem Trainer Werner Langer am Beckenrand.
"Mein Vertrauen erschlichen": Jan Hempel (l.) 1987 als Nachwuchstalent mit seinem Trainer Werner Langer am Beckenrand. © Foto: Archiv/SZ/Busch

Über 14 Jahre hinweg habe sich Langer an ihm vergangen. Im Alter von elf Jahren habe es angefangen. Es sind die vielleicht massivsten Missbrauchsvorwürfe, die je ein deutscher Weltklassesportler öffentlich gemacht hat. Langer selbst kann sich dazu nicht mehr äußern. Er stürzte sich 2001 im Alter von 54 Jahren von einer Brücke in Österreich in den Tod.

Hempels schockierende Schilderungen platzen mitten in die Euphorie der Schwimm-Europameisterschaften in Rom, bei denen sich unter anderem die Dresdner Wasserspringerin Tina Punzel gerade über zwei Goldmedaillen vom Drei-Meter-Brett freuen durfte.

Im Fokus steht nun jedoch auch ein Mann, der seine Karriere bereits vor 19 Jahren beendet hat. Jan Hempel, geboren 1971 in Dresden, aufgewachsen in Radebeul, ist einer der erfolgreichsten deutschen Wasserspringer. Früher als andere kam er mit dem Leistungssport in Kontakt, weil sein Vater selbst Trainer war. Nicht in der Schwimmhalle, sondern auf der Tartanbahn als Leichtathlet. Jan zog es zum Wasser. Fürs Schwimmen war er zu klein, also ging es für ihn auf den Turm.

Jan Hempel gewann 14 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften.
Jan Hempel gewann 14 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. © Foto: SZ/Marion Gröning

Ingrid Krämer-Gulbin, Medaillengewinnerin bei Olympia 1960 und 1964, war seine Entdeckerin. "Von ihr habe ich alle Techniken des Sports gelernt, sie hat den Grundstein gelegt", sagt Hempel. Mit vier Jahren machte er seine ersten Sprünge und legte dann eine beeindruckende Karriere hin. Insgesamt gewann er 14 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. Sein größter sportlicher Erfolg war die Silbermedaille 1996 in Atlanta. 2000 gewann er bei den Spielen in Sydney Bronze. Bis 1997 immer an seiner Seite: Werner Langer.

Hempels Heimatverein war der SC Einheit Dresden, der später zum Dresdner SC wurde. DSC-Präsident Wolfgang Söllner reagiert nun fassungslos: "Was ich heute in den Medien lesen und sehen musste, erschüttert mich zutiefst. Die Vorwürfe kannte ich bis heute nicht", sagt er am Donnerstag. "Nach meinen heutigen Recherchen ist es wohl richtig, dass Jan Hempel 1997 diese Anschuldigungen gegen seinen Trainer vorgebracht hat."

Langer sei damals für den Bundesverband am Dresdner Stützpunkt tätig gewesen, habe in keinem Anstellungsverhältnis mit dem DSC gestanden. "Nach dem internen Bekanntwerden der Vorwürfe ist Herr Langer von der damaligen Bundestrainerin abgezogen und vom DSC mit einem lebenslangen Hallenverbot belegt worden", sagt Söllner. Dabei sei es damals "der ausdrückliche Wunsch" Hempels gewesen, das Thema aus den Medien zu halten.

Jan Hempel mit Trainer Werner Langer beim Telefonforum der Sächsische Zeitung.
Jan Hempel mit Trainer Werner Langer beim Telefonforum der Sächsische Zeitung. © Foto: SZ/Marion Gröning

An diesem Donnerstagmittag steht Jan Hempel am Beckenrand des Jahnbades im Klipphausener Ortsteil Miltitz. Der Himmel ist bewölkt und für die hochsommerlichen Temperaturen ist ziemlich wenig los. Kaum einer der Badegäste dürfte wissen, wer hier als Bademeister für die Sicherheit sorgt. Hempel ist inzwischen 50 Jahre alt und lebt im Landkreis Meißen. Auf die Frage, warum er sich damals nicht gleich jemandem anvertraut habe, schweigt er kurz. Trainingslager und Wettkämpfe hätten zu einer Entfernung von der Mutter geführt, räumlich und auch emotional. Und gegenüber den Freunden? Da sei die Scham zu groß geworden. "Und irgendwie gibt man sich auch immer die Mitschuld an dem, was da passiert", sagt Hempel.

Anfangen habe es mit Anfassen, erst gelegentlich, später täglich. "Er hat eigentlich keinen Zeitpunkt ausgelassen, um seinen Wünschen freien Lauf zu lassen", erinnert sich Hempel im ARD-Film. "Ich weiß bloß, dass man das dann am Ende über sich ergehen ließ, weil er eben solche Dinge sagte wie: 'Wenn du das machst, dann hast du heute Nachmittag frei'."

Rückkehr nach den erfolgreichen olympischen Spielen von Atlanta 1996: Michael Kühne, Trainer Werner Langer und Silbermedaillengewinner Jan Hempel (v.l.).
Rückkehr nach den erfolgreichen olympischen Spielen von Atlanta 1996: Michael Kühne, Trainer Werner Langer und Silbermedaillengewinner Jan Hempel (v.l.). © Foto: SZ/Marion Gröning

Wegen der Erfolge seiner Schützlinge war Langer damals als Nationaltrainer der Wasserspringer hochgeschätzt. Seine Übergriffe trafen Hempel doppelt, denn zu dieser Zeit hatte Langer längst auch die Rolle eines Ersatzvaters eingenommen. "Nach der Scheidung meiner Eltern hat er begonnen, sich mein Vertrauen zu erschleichen." Auch wenn die im Film gezeigten Bilder vom gemeinsamen Schachspiel für das Fernsehen inszeniert waren, habe man eben doch die meiste Zeit gemeinsam verbracht. Oft auch unter Vorwänden. So habe er, wann immer seine Mutter Besuch aus Westdeutschland bekam, beim Trainer übernachten müssen.

1997 fasste Hempel den Mut und meldete den Missbrauch beim Deutschen Schwimmverband. Werner Langer wurde entlassen. Mehr passierte allerdings nicht. Keine Anklage. Keine Strafe. Hempel sagt heute, zur Begründung seien damals nicht die Vergewaltigungen, sondern Langers Stasi-Vergangenheit genannt worden. "Das ist absurd. Jeder Nationaltrainer, der mit seinen Sportlern weltweit im Ausland unterwegs war, musste Berichte schreiben."

Seine sportliche Heimat hatte Jan Hempel beim Dresdner SC.
Seine sportliche Heimat hatte Jan Hempel beim Dresdner SC. © Stefan Hesse/dpa (Archiv)

Als offizielles Statement zur Trennung von Langer wurde Hempel damals mit den Worten zitiert: "Die in den letzten Jahren zutage getretenen Verschleißerscheinungen in unserer Zusammenarbeit lassen ein erfolgreiches Miteinander nicht mehr zu." Intern versprachen die damaligen DSV-Funktionäre, dass Langer niemals mehr im Nachwuchsbereich eingesetzt werde. Das stimmte für Deutschland, nicht aber für Österreich, wo Langer beim Schwimmverband als Trainer anheuerte.

Jan Hempel sprang noch bis 2003 weiter, bevor ihn die Folgen unzähliger Verletzungen zum Rücktritt zwangen. Fünf Operationen an beiden Handgelenken, vier am Knie und eine am Fuß musste er im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen. "Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man ungefähr 280.000 Mal auf dem Wasser aufschlägt." Soll heißen: Das musste er einkalkulieren. Die ständigen seelischen Schmerzen aufgrund des jahrelangen Missbrauchs jedoch nicht.

Substanziell mit seinen Vorwürfen auseinandergesetzt habe sich die DSV-Verbandsspitze nie, sagt Hempel. "Alle haben geschwiegen, bis heute." Eine Person aus dem Führungszirkel des Verbandes, die laut ARD-Doku anonym bleiben möchte, bezeichnet den aktuellen Umgang der DSV-Spitze mit dem Thema sexueller Missbrauch als "Augenwischerei und Fassade".

Jan Hempel 1994 in Aktion.
Jan Hempel 1994 in Aktion. © Foto: SZ/Marion Gröning

Konkret wirft Hempel dem langjährigen DSV-Top-Funktionär Lutz Buschkow vor, dazu beigetragen zu haben, dass sein Missbrauchsfall nie aufgearbeitet wurde und Lehren für die Zukunft gezogen wurden. Buschkow hat den DSV lange als Leistungssportdirektor angeführt und ist heute als Bundestrainer der Wasserspringer angestellt. Die aktuelle DSV-Führung gibt an, von den Vorwürfen Hempels erst durch die ARD erfahren zu haben. Am Donnerstagabend wurde bekannt, dass Buschkow inzwischen "von seinen Aufgaben freigestellt" worden sei.

In der Doku berichten weitere Betroffene über Fälle von sexualisierter Gewalt im deutschen Schwimmsport. Der DSV sah sich in jüngster Vergangenheit mehrfach dem Vorwurf ausgesetzt, Missbrauchsfälle nicht adäquat aufgearbeitet zu haben. So auch im Fall des ehemaligen Freiwasser-Bundestrainers Stefan Lurz, der mittlerweile wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde. Das Amtsgericht Würzburg bestätigte der ARD, dass Lurz laut Bewährungsauflagen derzeit "jegliche berufliche und ehrenamtliche Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Schwimmsport" zu unterlassen habe. Internen Unterlagen zufolge, die der ARD vorliegen, soll er jedoch als kaufmännischer Mitarbeiter beim Schwimmverein Würzburg 05 angestellt sein. Videoaufnahmen zeigen zudem, wie Lurz auf dem Vereinsgelände ein und aus geht.

2003 verabschiedete sich Hempel vom Leistungssport - hier mit seiner Tochter.
2003 verabschiedete sich Hempel vom Leistungssport - hier mit seiner Tochter. © SZ/Jürgen Lösel

Auf eine Entschuldigung vom DSV wartet Hempel bis heute. Am Donnerstag erhielt er eine Mail von Langers Tochter. Sie wusste von den Taten ihres Vaters, zeigte sich erschüttert und zugleich überrascht, dass das Thema jetzt noch einmal aufgerollt werde. "Das bin ich den kommenden Generationen schuldig", sagt Jan Hempel. Er hofft, dass seine Geschichte ein Weckruf für den Schwimmverband, ja vielleicht sogar für den gesamten Sportbetrieb ist. Sexuelle Belästigung sei nicht nur bei Schwimmern oder Wasserspringern allein ein Thema, ist er überzeugt.

Jan Hempel hat inzwischen damit begonnen, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Es ist ein Kampf gegen die Zeit, denn er leidet an einer besonders aggressiven Form von Demenz. Die Krankheit wird ihm in all ihrer Tragik irgendwann erlauben, was eine Therapie nicht geschafft hat: den Missbrauch zu vergessen.

Die Dokumentation "Missbraucht – Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport" ist am Samstag 22.40 Uhr in der ARD zu sehen und schon jetzt in der Mediathek.

Beratungsstellen und Notrufe für Opfer sexueller Gewalt finden Sie hier.