Paris/Dresden. Olympia soll ein Auslaufmodell sein? Das ist großer Quatsch, wie zwei Beobachtungen dieser Tage beweisen. Kinder sitzen vorm Fernseher statt am Handy und schauen mit verblüffender Begeisterung stundenlang Bogenschießen, 3x3-Basketball und Tischtennis. Und Kollegen abseits der SZ-Sportabteilung unterhalten sich erstaunlich fundiert über die Entscheidungen des Vortags – und können es nicht fassen, dass sich Deutschland im Medaillenspiegel - Stand Freitagnachmittag - nicht mal mehr unter den besten zehn Nationen behauptet, dicht gefolgt von Rumänien, Hongkong und Irland.
Olympia reißt alle mit, und das längst nicht nur, weil man sich den emotionalen, den packenden Bildern aus Paris derzeit nur schwer entziehen kann. Selbst die Sozialen Medien haben die Spiele für sich entdeckt.
Beides ist wenig überraschend, die kollektive Begeisterung ebenso wie die Medaillenausbeute deutscher Sportlerinnen und Sportler. Manchen Zuschauer begeistern die Exoten und Besonderheiten, die nur Olympische Spiele bieten, andere die großen Gefühlsausbrüche der Athletinnen und Athleten auf der immer noch größten Sportbühne der Welt. Sogar neue deutsche Heldinnen und Helden gibt es – allerdings eben erst zwei Olympiasiege und überhaupt nur sieben Medaillen.
Die gute Nachricht: Noch ist nicht mal die Hälfte der insgesamt 329 Entscheidungen rum. Die schlechte: Es wird fürs deutsche Team kaum besser werden. Im Fußball ist vor Jahren mal vom tiefsten Tiefpunkt die Rede gewesen, als sich die deutsche Nationalmannschaft von einer Blamage zur nächsten rumpelte. Im olympischen Sport ist dieser Tiefpunkt immer noch nicht erreicht. Die Prognose, die 37 Medaillen von vor drei Jahren bei den Sommerspielen in Tokio und damit das schlechteste deutsche Abschneiden seit der Wiedervereinigung werden in Paris unterboten, ist kein typisch deutscher Pessimismus. Es ist die Wahrheit.
Das Schlimme daran: Die deutsche Sport-Krise ist hausgemacht
"Mancher hat von Medaillen geträumt", sagt der TV-Reporter bei der Final-Übertragung des Ruder-Doppelvierers und meint das deutsche Boot – um dann festzustellen: "Aber vielleicht war das doch etwas unrealistisch." Und das in einer Disziplin, die deutsche Ruderer jahrzehntelang geprägt und für olympische Sternstunden gesorgt haben: 1968 und 1972 zum Beispiel mit den Triumphen eines ausschließlich sächsisch besetzten Bootes oder auch 2012 und 2016. Diesmal reichte es zum fünften Platz.
Es ist ein Beispiel von ganz vielen. Judo, überhaupt die Kampfsportarten, Fechten, Radsport, auch Leichtathletik und Schwimmen, ... – die Liste ließe sich fast beliebig erweitern. Im Medaillenspiegel wird deutlich, was sich seit Jahren manifestiert: Deutschland ist kein Sportland mehr, zumindest nicht was die Akzeptanz von Sport allgemein und die Unterstützung des Leistungssports im Speziellen betrifft. Andere Nationen haben nicht nur überholt, sie haben uns abgehängt. Das Schlimme daran: Die deutsche Sport-Krise ist hausgemacht.
Ein Kreislauf, der sich zu einer Negativspirale entwickelt hat mit einer immensen Sogwirkung. Das fängt in der Schule an, wenn Sportstunden immer wieder gekürzt und manchmal ganz gestrichen werden. Das betrifft Trainer, die selbst in höchsten Positionen bezahlt werden wie Azubis – und deshalb nicht selten zur Konkurrenz ins Ausland wechseln.
Das gilt auch für die Sportlerinnen und Sportler, denen der Übergang vom Nachwuchs- in den Erwachsenenbereich unnötig schwergemacht wird. Eine wirklich intakte duale Karriere ohne einen der raren Plätze bei Bundeswehr, Polizei oder Zoll ist jedenfalls nicht möglich. Und 20.000 Euro Prämie von der Sporthilfe für einen Olympiasieg – das ist ungefähr so, wenn die Großeltern den Enkeln fünf Euro in die Hand drücken und einen schönen Kinobesuch wünschen.
Jetzt kommt es darauf an, die Bevölkerung in Deutschland zu begeistern
Die Misere hat letztlich mit dem hiesigen Sportsystem in seiner Gesamtheit zu tun, mit viel zu viel Bürokratie und einer föderalen Struktur, die im Leistungssport selten förderlich ist. Wenn es um die Absicherung von Posten geht, funktionieren die meisten Funktionäre schließlich nicht anders als viele Politiker, jeder ist sich selbst der Nächste. Wen interessiert dann schon das große Ganze.
Das wird gerade jetzt wieder offensichtlich, wo Sport und Politik den perfekten Ausweg aus dem Dilemma gefunden haben: Und der heißt Olympia! Dass sich Deutschland bewerben will, ist jetzt beschlossene Sache. Gut und richtig so.
Doch noch bevor die Bundesinnenministerin am Freitag mit dem Deutschen Olympischen Sportbund und interessierten Bundesländern und Städten das Memorandum of Understanding unterzeichnet hat, also das offizielle Bekenntnis zur Bewerbung, wird das wichtige Anliegen schon zerredet. Kiel und Rostock streiten sich ums Segelrevier, und auch Leipzig bringt sich sofort wieder in Position. Dabei kommt es nun vor allem darauf an, die von Olympia faszinierte Bevölkerung für Spiele im eigenen Land zu begeistern. Zu verdeutlichen, dass Deutschland dieses Weltereignis dringend braucht. Als Triebfeder für einen Neuanfang – und zwar weit über den Sport hinaus.
Dass es wirklich funktioniert, zeigen gerade die Franzosen – auch im Medaillenspiegel. Egal ob 2036, 2038 oder 2040, egal ob Hamburg, Berlin, München oder doch Leipzig, Hauptsache in Deutschland.