Kühn, riskant, einzigartig: Das Olympiadach ist weltberühmt

Von Stefanie Wahl
München. Seine Scheu vor den Menschen hat der Spatz längst abgelegt. Er nähert sich zwei Hüpfer, piept frech, um dann doch davonzufliegen. Hier oben ist er stärker. Mutiger. Freier. Die Gruppe auf dem Zeltdach des Münchner Olympiastadions ist bei ihrer geführten Tour angeseilt. Der stählerne Rundlauf am Boden, in den sie für ihr Abenteuer eingeklinkt sind, dient als stete Verbindung. Das Sicherungsseil haben die Organisatoren liebevoll Waldi getauft – in Anlehnung an den Dackel, das beliebte Maskottchen der Olympischen Spiele 1972.
Die Assoziation zum Gassigehen passt, wer sein Seil in der rechten Hand locker auf Hüfthöhe hält, vergisst bei seinem Spaziergang in luftiger Höhe die Waldi-Leine. Zu sehr lockt der Blick in die Weite mit Innenstadt samt Frauenkirche, zu vielschichtig sind die Reize fürs Auge auf die Sitzschalen im Olympiastadion, die unter dem Betrachter in unterschiedlichen Grüntönen gehalten sind, um eine Wiese im Wind zu symbolisieren. Zugleich bieten sie einen fließenden Übergang in den Olympiapark und die voralpine Landschaft.
Bis heute prägen die Olympischen Sommerspiele von 1972 München – allen voran ihre innovativen Bauten auf dem Oberwiesenfeld, bis 1965 eine 280 Hektar große Brachfläche und Schutthalde im Norden der Stadt. Das Olympiagelände mit seinem Zeltdach ist das in aller Welt wahrgenommene architektonische Symbol für die geistige Freiheit und die heitere Offenheit, die sich die Deutschen nach Jahren der Diktatur und des Krieges erarbeitet haben.
Über diese modellierte Gebrauchslandschaft planen die Architekten vor mehr als 50 Jahren leichte, transparente und teils temporäre Zeltdächer als Wetterschutz zu spannen. Weit eingerückte, selbst stehende Fassaden machen aus ihnen Gebäude. Ein logisch-pragmatischer Ansatz. Aus einer Idee entsteht eines der nachhaltigsten Architekturprojekte in der Geschichte der Bundesrepublik.
Der Dach-Architekt wächst in Dresden-Lockwitz auf
„Eigentlich wollten wir gar kein Dach, weil nicht die Vorstellung zugrunde lag, Häuser zu bauen, sondern Sport in der Landschaft zu schaffen“, sagte Günter Behnisch. Im heutigen Dresdner Stadtteil Lockwitz geboren, ging er nach dem Krieg nach Stuttgart, studierte dort Architektur, eröffnete ein Büro. Nach der Wiedervereinigung entwarf er den Plenarsaal des Bundestags in Bonn, eröffnete ein Studio in Dresden und projektiere hier das St.-Benno-Gymnasium.
In München schreibt die Stadt bereits 1964 den Architektenwettbewerb für die Planung eines Großstadions aus. Den gewinnt Behnisch. Es ist ein Prozess mit Hindernissen. Er baut eine große Platte, in die er senkrecht Zahnstocher steckt und eine Feinstrumpfhose seiner Frau darüber spannt. Die Autofahrt nach Bayern übersteht das Modell nicht, Behnisch wird disqualifiziert. Sieger werden andere – bis die Politik entscheidet, das waghalsige Zeltdach doch zu bauen. Das Preisgericht verkneift sich im Abschlussprotokoll trotzdem die kritische Bemerkung nicht, sie seien von der technischen Umsetzbarkeit nicht vollständig überzeugt.
Der Spaziergänger auf dem Dach indes fasst nach wenigen Schritten Vertrauen, dabei sind die drei auf drei Meter großen Acrylglasscheiben nur drei bis vier Millimeter dick. Darauf zu stehen, ist keine Schwierigkeit, die Dachplatten haben eine Punktlast von 80 Kilo – auf den Quadratzentimeter. Ein Problem ist vielmehr, dass sie sich mit der Zeit milchig einfärben und nach etwa 30 Jahren ausgetauscht werden müssen. Wie zwischen 1995 und 1999. Damals ist es mit 60 Millionen Euro die teuerste Schönheits-OP der Stadt München. Ein Plan sieht vor, dass von 2024 bis ins Frühjahr 2026 der nächste Austausch erfolgen soll. Das Ziel: Nur eine Open-Air-Saison verpassen, schließlich sind die geschätzten Kosten von 500 Millionen Euro von gewaltigem Ausmaß.
8.330 Acrylglasplatten wirken luftig, leicht und transparent
Angekommen auf einer der Spitzen des Olympiadaches. Die Sonne brennt unerbittlich, die Hitze reflektiert auf den Platten. Doch der Schwindelfreie genießt den kitschig-bayrisch weiß-blauen Himmel über sich – und ist dankbar, dass nie ein Arbeiter abgestürzt ist. Wissend, dass beim Errichten der Konstruktion einzig die Flex gesichert gewesen ist. Das Auge bleibt am olympischen Feuer gegenüber hängen. Es steht noch immer an seinem ursprünglichen Ort. Klein und unscheinbar wirkt die silberne Stele nicht nur von oben. Dafür ist der Blick frei auf die gewaltige Dachkonstruktion mit all den Stahlseilen und mehr als 8.330 Acrylglasplatten, die die drei Hauptsportstätten Olympiastadion, Olympiahalle und Schwimmhalle zu einer Einheit zusammenschließen. Insgesamt erstreckt sich das Dach über eine Fläche von knapp 80.000 Quadratmetern. Der Preis einst: etwa 120 Millionen Mark. Die gesamte Infrastruktur eingerechnet, haben die Sommerspiele rund zwei Milliarden Mark verschlungen.

Doch der Olympiapark lebt auch 50 Jahre nach seiner Entstehung, gilt als eine der nachhaltig genutzten olympischen Stätten weltweit. Für 33 Jahre ist der FC Bayern hier beheimatet, dazu präsentieren sich musikalische Weltstars wie Michael Jackson, die Rolling Stones, Coldplay oder Tina Turner. Zuletzt waren hier die European Championships zu Gast, im Olympiastadion starteten die Leichtathleten.
Seit 1998 steht der Park samt Olympischen Dorf unter Ensembleschutz, das Olympiastadion zudem als Einzeldenkmal. Das hat nicht nur Vorteile. So sind die neuen, runden LED-Scheinwerfer Sonderanfertigungen. Immerhin beträgt die Energieersparnis knapp zwei Drittel gegenüber den alten Lampen. 564 sind es im Sommer 72, zu dieser Zeit erstrahlt das Stadion mit dem weltweit stärksten Flutlicht. Die Spiele sind die ersten, die in Farbe live im TV übertragen werden.
Starker Kontrast zu den Propagandaspielen 1936
Es wäre zu kurz gegriffen, in den Sportbauten nur die kühne Ingenieurskunst zu sehen. Die Leistung der Architekten lag darin, ein geschichtsloses Gebilde zu schaffen, das die Nazijahre hinter sich lässt und einen Kontrast zu den Berliner Propaganda-Spielen von 1936 mit ihrem Gigantismus schafft. Wer durch den Park schlendert, schaut von oben nach unten. Zwei Drittel der Gebäude gehen in den Boden.
Die technische Ausprägung begeistert, aber erst die Intention hat den Park zur Attraktion werden lassen. Aus der Vogelperspektive fallen besonders die zwölf Pylonen – im Halbkreis angeordnet – auf. Jeder von ihnen bewegt sich an der Spitze um maximal 1,5 Meter frei. Sie stehen auf einer großen Stahlkugel, die in den Boden einbetoniert wurde – und wie ein menschliches Hüft- oder Schultergelenk funktioniert. Das muss so sein. Wäre das Dach starr, hätte es so viel Material gebraucht, dass es schon aufgrund seines Eigengewichtes eingestürzt wäre. So hält es bis zu sechs Meter Schnee aus. Im Winter 2005/06 bewegte es sich ob der weißen Last knapp einen Meter in der Diagonalen.
Zur Mittagszeit kühlt eine Brise die heiße Haut. Der Klettergurt sitzt eng und unter dem Helm bilden sich längst Schweißtropfen. Trinkflaschen oder andere Utensilien sind auf dem Dach nicht erlaubt – zu gefährlich. Selbst ein Kuli würde zum unerwünschten Geschoss werden. Sicherheit ist oberstes Gebot. Das Smartphone bleibt entweder unten oder in einer Klarsichthülle.
Viel Skepsis beim Bau des außergewöhnlichen Dachs
Wer hier verweilt, begreift, dass die Konstruktion mehrmals auf der Kippe steht, ehe im August 1970 die ersten Masten für das Zeltdach aufgestellt werden. Die unerwartet hohen Montagekosten erzürnen die Öffentlichkeit. Doch die Befürworter, darunter Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, setzen sich durch. Bei der Übergabe des Olympiaparks an das Organisationskomitee sagt Vogel: „Die Bauten auf dem Oberwiesenfeld, insbesondere das Dach, haben München ein architektonisches Gesamtkunstwerk geschenkt, das sich neben den entsprechenden Werken anderer Generationen behaupten wird. Unsere Gesellschaft war dazu imstande, weil Technik und Ökonomie hier nicht geherrscht, sondern dem Schönen, Ästhetischen und Spielerischen gedient haben.“

Sie sind ein Risiko eingegangen. Wer weiß schon, ob die kühne Konstruktion wirklich funktioniert? Günter Behnisch, der 2010 verstarb, bekommt Frei Otto von der Uni Stuttgart zur Seite, weil der schon mal ein Zeltdach gebaut hat – für die Weltausstellung in Montreal. Doch das ist nur ein Zehntel so groß wie jenes in München. 1969 beginnen die Bauarbeiten, am 26. Mai 1972 wird das Olympiastadion mit dem Fußball-Länderspiel gegen die damalige Sowjetunion eröffnet. Deutschland siegt 4:1. Auch die Bayern kicken noch darin und die Sechzger, ehe Olympia einzieht. München gelingt es, im Zeit- und Kostenrahmen zu bleiben. Heute unvorstellbar.
Nach dem Ende der Spiele fürchten viele, das spektakuläre Zeltdach hält nicht lange. Die Konstrukteure geben zehn Jahre Garantie. 50 Jahre später steht es unverändert stabil. Weder Unwetter noch Schneestürme haben ihm etwas angetan. Das Dach liegt im statischen Gleichgewicht und glänzt in der Sonne. Experten sagen voraus, dass sich daran auch in den nächsten 50 Jahren nichts ändern wird.