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Deutsche Olympionikin erlebt Drama auf dem Reitplatz

Der Olympiasieg ist für Annika Schleu fast greifbar. Doch dann spielt das Pferd nicht mit. Die Fünfkämpferin weint in Tokio bittere Tränen - und wird hart kritisiert.

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Das Pferd Saint Boy von Annika Schleu verweigert den Sprung - und die Berlinerin fällt vom ersten auf den letzten Platz zurück.
Das Pferd Saint Boy von Annika Schleu verweigert den Sprung - und die Berlinerin fällt vom ersten auf den letzten Platz zurück. © dpa

Tokio. Mit jeder Sekunde wuchs die Verzweiflung. Annika Schleu weinte, sie schlug nach dem auch in der TV-Übertragung gut hörbaren Zuruf von Bundestrainerin Kim Raisner, sie solle richtig draufhauen, mit der Gerte. Dann rammte sie dem Pferd die Sporen in die Seite, doch nichts brachte die panisch wirkende Athletin und den völlig verunsicherten Saint Boy noch in Einklang.

Das Drama nahm in vielfacher Hinsicht seinen Lauf – und brachte Deutschlands beste Fünfkämpferin in Tokio um die sicher geglaubte Medaille. De facto war der Berlinerin sogar Gold so gut wie sicher.

Die verstörenden Bilder im olympischen Reit-Parcours haben eine heftig geführte Debatte über die Sportart ausgelöst. Dass die sichtlich überforderte Scheu zunehmend verzweifelt mit der Gerte auf das verängstigte Pferd schlug, sorgte für massive Kritik – und führte selbst bei Lena Schöneborn, Olympiasiegerin von 2008, zu Ratlosigkeit: „In dieser Situation waren wir bisher noch nicht, so drastisch ist uns noch nicht vor Augen geführt worden, dass es tatsächlich ein Fehler im Reglement ist.“

Annika Schleu weint nach ihrer Disqualifikation. Ihr Pferd hatte mehrmals den Sprung verweigert.
Annika Schleu weint nach ihrer Disqualifikation. Ihr Pferd hatte mehrmals den Sprung verweigert. © dpa

Tränenüberströmt saß Schleu im Tokyo Stadium auf ihrem zugelosten Pferd Saint Boy, das mehrfach verweigert hatte. Dennoch war es der 31-Jährigen, die nach ihrer Führung alle Chancen auf den Olympiasieg einbüßte und am Ende 31. wurde, nicht möglich, das Pferd zu wechseln. „Wenn man das sieht, mag man denken, dass das immer so läuft. Die Erfolge, die wir sonst zwischendurch feiern, sprechen dagegen“, sagte Schleu zu ihrem Einsatz der Gerte. „Eigentlich sind wir Deutsche als gute und solide und auch einfühlsame Reiter bekannt.“ Für noch mehr Kritik sorgte indes der Auftritt der Bundestrainerin. „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“, rief Raisner.

Nach dem Wettkampf stand sie zu ihrer Aussage. „Ich hab gesagt, hau drauf. Aber sie hat das Pferd nicht gequält, in keinster Weise“, sagte Raisner, und sie betonte: „Dass man mal mit der Gerte hinten draufhaut, ist jetzt keine Quälerei. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus.“

Die siebenmalige Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth sah sich derweil in ihrer Bewertung der Disziplin Reiten im Fünfkampf bestätigt und kritisierte den Einsatz von Pferden scharf. „Das hat mit Reitsport nichts zu tun, wie wir ihn betreiben und kennen“, sagte die erfolgreichste Reiterin der Welt. „Das ganze System muss geändert werden.“ Das Pferd tue ihr leid, erklärte Werth. Die Tiere seien in dieser Sportart „nur ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben.“ Ihr tue aber auch „das Mädchen leid“, die Opfer des Systems ihrer Sportart sei, so Werth.

Olympiasiegerin Schöneborn kennt die Situation

Statt Jubel herrschte bei den deutschen Fünfkämpfern kollektives Entsetzen. „Warum mein Pferd so verunsichert war, weiß ich nicht“, sagte Schleu. Ihre Augen waren noch lange nach dem abschließenden Laser-Run gerötet und feucht. Auch die vielen tröstenden Umarmungen der Rivalinnen halfen kaum – schließlich hatten Schleu auch wütende Kommentare aus der Heimat erreicht. „Es ist tragisch. Ich werde wohl eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen“, sagt sie. Raisner sagte dazu: „Es ist nicht ihre Schuld. Das Pferd wollte immer nur zur Tür.“

Auf der Tribüne fühlte Schöneborn mit ihrer langjährigen Trainingspartnerin mit. Erinnerungen an Rio vor fünf Jahren wurden wach. „Es kann keiner besser nachempfinden als ich. Es ist Eins-zu-Eins die Situation, die ich hatte“, sagte Schöneborn, die 2016 in Brasilien ihre Medaillenchance in einer ähnlichen Situation verloren hatte.

Schleu war als Führende in die dritte Teildisziplin gestartet. Auf dem zugelosten Pferd hatte zuvor schon die Russin Gulnas Gubaidullina mit drei Verweigerungen große Probleme gehabt. Damit Schleu ein Ersatzpferd hätte wählen können, wären vier nötig gewesen. Sie hielt Rücksprache mit einem Veterinär und holte sich Tipps von der Besitzerin ein. Auf dem Abreiteplatz habe man sich „sehr gut verstanden. Es gab keinen Fehler“, erklärte sie später. Noch bevor die Sportsoldatin aber auf den Parcours reiten konnte, blockte das Tier ab. „Ich war kurz davor, abzugrüßen, bevor es losging, weil ich gemerkt habe, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt“, sagte Schleu. Stattdessen gingen Bilder um die Welt, die kein gutes Licht auf den Modernen Fünfkampf warfen.

Schleu war um Klarstellung bemüht. Eigentlich würden die deutschen Fünfkämpfer „als sehr einfühlsame Reiter“ gelten. „Es bricht uns das Herz, dass wir es nicht zeigen können. Ich denke, die Leute können es einfach nicht richtig einschätzen“, sagte sie. Auch da ist Werth ganz anderer Meinung: „Es gibt im Fünfkampf keinerlei Miteinander zwischen Reiter und Pferd.“

Erst Trainingsausfall wegen Corona, jetzt das Drama

Die Deutsche Reiterliche Vereinigung und der Deutsche Olympische Sportbund sehen das Problem vor allem beim Weltverband. „Als Fachverband für den Pferdesport sehen wir die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch“, sagte Sportchef Dennis Peiler. Das Reglement müsse so gestaltet sein, dass Reiter und Pferd geschützt würden. Dieser Einschätzung schloss sich der DOSB an. „Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern“, hieß es in einer Stellungnahme. Es müsse so umgestaltet werden, „dass es Pferd und Reiter schützt. Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen.“

Im Internet gab es deutlichere Worte. „Moderne Tierquälerei“ oder „Kein Respekt vor dem Tier“ war wenige Minuten nach den ungewöhnlichen Szenen bei Twitter zu lesen. Sätze wie „Holt das Mädchen vom Pferd runter“ und sich übergebende Smileys gehörten noch zu den gemäßigten Botschaften. Die Tierrechtsorganisation Peta forderte die Suspendierung von Schleu und Raisner und sprach von „Misshandlungen“. Anders als im Springreiten müssen die Sportlerinnen und Sportler im Fünfkampf mit einem zugelosten und vorher unbekannten Pferd in den Parcours. Der Veranstalter stellt die Tiere zur Verfügung. Sie haben dann im Wettkampf mehrere Reiterinnen und Reiter in kurzer Zeit nacheinander im Sattel. Vor dem Ritt haben die Sportlerinnen und Sportler nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Dies gelang Schleu mit Saint Boy gar nicht.

Für Schleu war das besonders bitter. Im Frühjahr war das Ziel Olympia noch fern. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und musste mehrere Wochen pausieren. Als harte und deprimierende Zeit beschrieb die Berlinerin die damalige Phase. Schleu kämpfte sich zurück an die Spitze - mit einer Medaille wurde sie nach dem undankbaren vierten Rang in Rio aber auch in Tokio nicht belohnt. Stattdessen lieferte sie die Negativ-Bilder der Spiele. (dpa, sid)