Diese Technik steckt hinter den deutschen Gold-Bobs

Von Lars Spannagel
Die Flügeltür geht auf, zwei Männer in blauen Latzhosen rollen auf einem fahrbaren Tisch ein Gebilde herein, das aussieht wie der in Klarsichtfolie eingeschlagene Körper eines Haifischs. Aus der Folie ragt ein Schlauch, als würde der Hai künstliche Beatmung brauchen. Die Männer rollen den Tisch wie ein Krankenbett auf eine riesige Röhre zu, deren mannsgroßer Deckel weit offen steht.
Der Hai ist ein Bob, die künstliche Beatmung ein Vakuum, die Röhre ein Backofen. Und das, was hier Mitte November in einer Werkstatt in Berlin-Oberschöneweide passiert, soll Deutschland in mehr als 7000 Kilometern Entfernung jede Menge Medaillen bescheren.

Die beiden Männer schieben den Hai vorsichtig in die Röhre, verschließen den Deckel luftdicht mit einem großen Rad. Einer der beiden tritt an einen großen Schrank mit vielen Schaltern, Anzeigen und Reglern. Er wählt Programm Nummer 296 aus, 100 Grad Celsius, sechs Stunden Backzeit, und wieder ist ein Arbeitsschritt auf dem Weg zum olympischen Ruhm geschafft.
An den Wänden der Werkstatt hängen Fotos und Autogrammkarten von Bobpiloten, Bahnradfahrerinnen oder Kanuten. Die meisten grinsen und halten Medaillen in die Kamera.
Die Sportgeräte, auf denen sie zum Sieg gerast sind, wurden allesamt im "Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten", kurz FES, erdacht und gefertigt. Hier, in einem grauen Gewerbegebiet im Berliner Südosten, arbeiten das ganze Jahr über 80 Menschen – Ingenieure, wissenschaftliche Mitarbeiter, Handwerker und Handwerkerinnen – daran, dass deutschen Sportlern in 13 Disziplinen das bestmögliche Material zur Verfügung steht. 7,28 Millionen Euro lässt sich der Bund das jährlich kosten. Bei den ersten Wettbewerben im Mannschafts-Bob bei diesen Winterspielen machte sich diese Investition bezahlt: Im Zweierbob der Männer gingen erstmals in der olympischen Geschichte alle drei Medaillen nach Deutschland.
Das FES ist eine weltweit einzigartige Mischung aus Werkstatt, Think Tank und James-Bond-Laboratorium. Bei den Olympischen Winterspielen in Peking zeigt sich bereits, dass es seinem Ruf gerecht wird. Denn für das FES, das wird bei einem Besuch in Oberschöneweide sofort klar, ist Gold immer der Anspruch, der einzige Anspruch. Den perfekten Bob zu entwerfen, hat nunmal keinen höheren Zweck oder gesellschaftlichen Wert: Es geht um Ingenieurskunst, Akribie, das perfekte Zusammenspiel von Sportlern und Fahrzeug.

Der Bob brutzelt im Backofen, ein paar Meter entfernt steht Enrico Zinn und sieht zufrieden aus. Der 42-Jährige – Vollbart und Brille, Polo-Hemd mit FES-Logo, Cargohose, Trekkingschuhe – ist der "Projektleiter Bob", gemeinsam mit drei anderen Ingenieuren ist er dafür verantwortlich, dass die deutschen Bobs in Peking wieder die schnellsten sind. Sechs Zweier und drei Vierer werden in Berlin gebaut, dazu kommen Ersatzfahrzeuge.
An jedem einzelnen Bob sind 20 bis 25 Personen beteiligt, vier bis sechs Wochen dauert die Fertigung, Vierer dauern etwas länger. Zum Beispiel, weil sie nicht nur zwei Mal wie ein Zweier, sondern drei Mal in den Backofen müssen: Ihre Haut aus Kohlefaser muss noch stärker aushärten, weil der Bob länger ist.
"Wir befinden uns zurzeit in der stressigsten Phase", sagt Zinn zwei Stockwerke weiter oben in seinem Büro, ein Kollege rechnet am Computer gerade mehrere Varianten für Metallrahmen durch. Man hört an Zinns Zungenschlag, dass er aus Sachsen stammt, genauer gesagt aus Freiberg. Wenige Tage zuvor ist er aus China zurückgekehrt, die internationalen Bobteams durften erstmals die olympische Bahn ausprobieren, die eigens für die Winterspiele errichtet wurde.
1615 Meter geht es bergab, das Gefälle beträgt bis zu 18 Prozent, nach 16 Kurven ist das Ziel erreicht, 2,5 Milliarden Euro soll das Bauwerk gekostet haben.
Die Piloten, erzählt Zinn, müssten in China erst einmal "die Seele der Bahn erkennen", so habe das der viermalige Olympiasieger André Lange immer genannt. Was das heißt? "Wie man runterfährt", sagt Enrico Zinn und verbessert sich schnell, "wie man am schnellsten runterfährt."
Jetzt, nach 50 Trainingsläufen, muss Zinn mit seinem Team an den Nuancen feilen, die Erkenntnisse aus China umsetzen. "Was wir suchen, ist eine Verbesserung von zwei Zehntelsekunden. Aber die verfährst du auf der Bahn so schnell." Dass die Olympia-Bahn ganz neu sei, kaum vergleichbar mit den bestehenden Rennstrecken, bedeute viel Arbeit, sagt Zinn, "vor allem Denkarbeit: Was kann da gut funktionieren?"
Im Raum neben dem riesigen Backofen riecht es beißend nach Klebstoff. Zwei Werkstattmitarbeiter tragen großzügig schwarzen Kleber im Inneren einer Bob-Verkleidung auf, Schicht für Schicht werden so Kohlefasern miteinander verleimt, dadurch entsteht am Ende ein leichter aber sehr stabiler Außenkörper. Wieder einen Raum weiter ist eine Mechanikerin halb in einen Bob-Rohling hineingekrochen, um die Innenwände zu glätten, ihre Schleifmaschine erfüllt den Raum mit Kreischen.
Mit der Außenverkleidung des Bobs, der so genannten Haube, müssen Zinn und seine Kollegen früh anfangen, um die Wünsche der Sportlerinnen und Sportler von Beginn an miteinzubeziehen. Windschnittig muss der Bob natürlich sein, die Mannschaft soll nur wenig herausgucken. Andererseits müssen Piloten und Anschieber aus vollem Sprint schnell einsteigen können und sich bei der Fahrt einigermaßen wohlfühlen – so weit das bei Geschwindigkeiten um 150 km/h in einem Eiskanal möglich ist.
Im Büro der Ingenieure im zweiten Stock geht es nicht ums Wohlfühlen, sondern um Physik. Zinns Kollege lässt den Computer durchrechnen, wie sich verschiedene Rahmen verhalten, wenn man sie mit 15 Kilonewton belastet. Daraus lässt sich dann ableiten, wie stark der Rahmen sein muss und welchen Einfluss das auf das Fahrverhalten hat. Per Mausklick, wie bei einem High-Tech-Rennauto, lässt sich bei einem Bob nichts einstellen. Bei mehr als 300 Einzelteilen für den Rahmen allein geht es vielmehr um Handarbeit.

Neben der Verkleidung haben die Ingenieure zwei weitere große Arbeitsfelder: das Fahrwerk – es geht um Federung, Dämpfung, perfekte Geradeausfahrt – und die Kufen, die so wenig Reibung wie möglich haben sollen und trotzdem gut lenkbar sein müssen. Alle Nationen erhalten die gleichen Kufen-Rohlinge vom Weltverband. Wie man diese aber zuschleift, ist eine Wissenschaft für sich.
Ein großer Moment ist dann die so genannte "Hochzeit", bei der Rahmen und Haube miteinander verbunden werden. Am Ende wird jeder Bob noch individuell auf sein Team eingestellt. Manche Piloten bevorzugen eine sehr direkte Lenkung, die Sitzschalen müssen den Gesäßen angepasst werden.
An einer Werkstattwand hinter den Männern mit den Klebepistolen hängt ein DIN-A4-Zettel mit einer langen Checkliste für die Zweier-Bob-Flotte, zum Beispiel: "6x Haubendecke, 6x Omegadeckel, 6x Vorderboot". Viele der Punkte sind bereits abgehakt, hinter dem Punkt "CFK Pratzen HB" ist allerdings vermerkt: "Alle nochmal neu!!!" Wer beim FES arbeitet, muss Perfektionist sein.
Enrico Zinn hat sein ganzes bisheriges Berufsleben hier verbracht. Als Maschinenbaustudent macht er 2004 ein erstes Praktikum in Oberschöneweide, entwirft ein Messgerät fürs Segeln. Für seine Bachelorarbeit konstruiert er eine Fahrradkurbel, wurde Werkstudent, für seine Masterarbeit schlägt ihm ein Ingenieur vor: Mach doch mal ein Bob-Fahrwerk! Das Fahrwerk kommt bei Olympia 2010 in Vancouver zum Einsatz, Gold im Zweier, Festanstellung.
2014 folgt dann der Tiefpunkt der deutschen Bob-Erfolgsgeschichte, bei Olympia in Sotschi gibt es erstmals seit Jahrzehnten keine einzige Medaille. Die Sportler suchen die Verantwortung für das historische Debakel beim FES. Anschieber Kevin Kuske, mit vier Gold- und zwei Silbermedaillen erfolgreichster Bobfahrer der Olympia-Geschichte, bezeichnet das High-Tech-Gefährt aus Oberschöneweide als "Trabi".
Enrico Zinn sitzt damals in Berlin vor dem Fernseher, schon nach dem ersten Lauf sieht er: Das wird nix. "Das Gesamtpaket war nicht gut", sagt er heute. "Niemand war zufrieden." Man habe nur übereinander gesprochen, nicht miteinander, das habe den Streit verschärft. Inzwischen habe man wieder gelernt, "die Leute mit ins Boot zu holen", vor diesen Olympischen Spielen gebe es ein gutes Geben und Nehmen mit den Piloten. "Wir haben unsere Modelle, der Sportler hat sein Bauchgefühl. Dadurch entstehen neue Ideen."
2018 bei den Winterspielen in Pyeongchang geht die Hälfte der deutschen Bobfahrer erstmals mit einem Konkurrenzbob des österreichischen Konstrukteurs Hannes Wallner an den Start, nach dem Sotschi-Schock ein Misstrauensvotum gegen das FES, ein Affront.
Die Konkurrenz schläft nicht
Beide Lager belauern sich über mehrere Jahre, Piloten wechseln kein Wort miteinander, Wallner selbst wirft den FES-Leuten "Feindseligkeit" vor. Die Goldmedaillen holen 2018 allerdings die FES-Bobs, mittlerweile rüsten Zinn und seine Mitarbeiter wieder alle deutschen Pilotinnen und Piloten aus. Die letzten Jahre haben wieder einmal gezeigt: Die Konkurrenz schläft nicht. Auch deswegen ist Zinn sehr vorsichtig, was Fotos von der Arbeit in der Werkstatt angeht. "Dieses Teil bitte nicht", sagt er dann, "nicht von dieser Seite, auf keinen Fall den Bob von innen!" Geheimniskrämerei gehöre nun mal dazu, "das ist in der Formel-1 nicht anders".
Immer wieder bittet Zinn die Piloten, die Bobs bei Wettkämpfen bis kurz vor dem Start abgedeckt zu lassen, bestimmte Neuerungen vor den Blicken der Konkurrenten zu verbergen. Ein Bauteil sehe für Nichttechniker womöglich nichtssagend aus, "aber da steckt viel Energie drin, viel Kosten und Zeit!" Diese Investition gelte es zu schützen, auch wenn es sich nur um eine kleine Stahlplatte mit vier Schrauben handle. "Denn der Kenner fragt sich sofort: Was haben die sich dabei gedacht?"
Der Österreicher Wallner, das ist auch Teil der Geschichte, entwickelt mittlerweile die Bobs für Olympia-Gastgeber China, wie er es vor den Spielen von Sotschi bereits für Russland getan hat. Schon in alten Zeiten waren Herrscher häufig auf der Suche nach Männern, die versprachen, Gold herstellen zu können.
Die Bobwelt ist klein, man kennt sich. Hat Enrico Zinn auch schon mal ein Angebot bekommen, die Seiten zu wechseln? "Es hätte Möglichkeiten gegeben", sagt er nach kurzem Zögern. Wohin? Jetzt lacht Zinn und schüttelt den Kopf, nächste Frage bitte.
Es sind Menschen wie Enrico Zinn, die neben aller Erfahrung, dem Forschungseifer und der Expertise das Erfolgsgeheimnis des FES ausmachen. In China, Südkorea oder Russland wird punktuell in die Entwicklung von Bobs investiert – kontinuierlich weitergegeben, fortentwickelt und konserviert wird das Wissen aber nicht. Enrico Zinn formuliert es so: "So viel Liebe und Durchdachtheit gibt es wohl nirgendwo."
Eine große Tafel im Eingangsbereich des schmucklosen Gebäudes – gegenüber ein Heizungshersteller, nebenan ein Lager für Baugerüste – listet alle FES-Olympiasieger seit 1964 auf. Ein Jahr zuvor war das Institut in der DDR gegründet worden, um Kunststoffboote fürs Ruderer, Segler und Kanuten zu entwerfen. Bald kamen immer mehr Sportarten dazu, die Ruhmestafel zeugt von der Vielseitigkeit der Ingenieure. Nach dem Mauerfall wurde das FES als "erhaltenswürdig" in den deutschen Einigungsvertrag aufgenommen – im Westen gab es nichts Vergleichbares.
Seitdem finanziert hauptsächlich das Bundesinnenministerium das Institut. Auch weil es – im Gegensatz zu anderen Sportgeräten – für Bobs, Rennschlitten oder Vierer-Rennkanus keinen wirklichen Markt gibt. Kein Sportartikelhersteller treibt die Entwicklung voran, wie etwa bei Tennisschlägern oder Fußballschuhen. Niemand kann sich privat einen Bob leisten, der nach Schätzung von Zinn um die 100.000 Euro kosten würde.
Enrico Zinn ist Anfang Februar nach Peking gereist, bei den Trainingsläufen und Rennen steht er am olympischen Eiskanal, zwischen den Rennen feilt er an der Feinabstimmung der Bobs. Selbst in einem Bob mitgefahren ist er auch schon mal, auf den deutschen Bahnen in Oberhof und Königssee. "Es ist sehr laut, es rappelt, es schüttelt einen durch", sagt er. "Das ist wie Achterbahn. Nur krasser."