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Ovtcharov - ein mentales Monster

Der 32-Jährige gewinnt im Tischtennis-Einzel nach einem Krimi Bronze. Dabei hatte er zuvor kaum schlafen können.

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Die Anspannung muss raus: Dimitrij Ovtcharov.
Die Anspannung muss raus: Dimitrij Ovtcharov. © dpa

Von Michael Wilkening

Tokio. Irgendwann, in ein paar Tagen vielleicht, wird Dimitrij Ovtcharov sehr müde werden. Wenn das olympische Tischtennis-Turnier vorüber ist, wird er die Erschöpfung spüren, die er jetzt noch mit mentaler Kraft überlistet. „Wenn ich heute verloren hätte, hätte ich gar nicht mehr gewusst, wie ich schlafen oder essen soll“, gab der 32-Jährige einen Einblick in seinen Seelenzustand.

Mit einer bemerkenswerten Leistung hatte er nicht einmal 24 Stunden nach der bittersten Niederlage seine Karriere die Energie gefunden, um sich noch einmal gegen alle Widerstände durchzusetzen – Ovtcharov gewann am Freitag im „Metropolitan Gymnasium“, der Tischtennishalle in Tokio, nach einem neuerlichen Tischtennis-Krimi mit einem 4:3 (13:11, 9:11, 6:11, 11:4, 4:11, 15:13, 11:7) gegen den Taipeh-Chinesen Lin Yun Ju die Bronzemedaille.

Lin ist gerade 19 Jahre alt und ihm wird zugetraut, die Dominanz der Chinesen zu brechen. „Er wird jeden Monat besser“, sagte Bundestrainer Jörg Roßkopf über Lin und attestierte ihm den „besten Rückspiel-Topspin der Welt“. Ovtcharovs Gegner hat unzählige Waffen in seinem Spiel und weil er sich so rasant entwickelt, ist er schwerer zu analysieren als die weltweit führenden Chinesen. Die Aufgabe war unglaublich schwer und schien fast nicht lösbar, weil Ovtcharov am Vortag dramatisch im Halbfinale gegen Ma Long, den besten Spieler der vergangenen Jahre, verloren hatte.

Ein "episches" Halbfinale

Roßkopf nutzte eine List, um seinen Schützling vor dem Bronzematch aufzubauen. „Seine Tochter wünscht sich, dass er irgendwas mitbringt, und am besten eine Medaille. Das habe ich ihm gestern noch im Bus gesagt“, erklärte der Coach, der 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta ebenfalls eine Bronzemedaille im Einzel gewann. Roßkopf konnte sich mehr als viele andere in die Gemütsverfassung von Ovtcharov hineinversetzen und wählte offenbar die richtigen Worte, um seinem Schützling eine weitere mentale Großtat zu ermöglichen.

Nicht einmal 24 Stunden vor dem Kraftakt gegen den kommenden Star der Tischtennis-Szene hatte das „beste Spiel meines Lebens“ (Ovtcharov) nicht für den Einzug ins Finale gereicht. In einem 86 Minuten währenden Match, das Fachleute schon unmittelbar nach dem letzten Ballwechsel als „episch“ bezeichneten, hatte er gegen den chinesischen Topstar Ma Long verloren. Sieben Sätze lang lieferte sich Ovtcharov einen hochklassigen Fight mit dem Olympiasieger von 2016 und 2021, der gestern das Endspiel gegen Landsmann Fan Zhendong mit 4:2-Sätzen gewann.

Der Favorit hatte im Halbfinale mehrmals gewackelt. Der Deutsche und der Chinese trieben sich gegenseitig zu einer Leistung an, die vorher kaum vorstellbar war. Beide Akteure investierten alle körperliche und mentale Energie in das Match – aber nur Ma Long verließ die Platte mit positiven Emotionen. „Ich habe fast nicht geschlafen, es kamen immer wieder Spielfetzen vor meine Augen. Ich war heute Morgen so erledigt und wusste nicht, wie ich aufstehen soll“, berichtete Ovtcharov von den Stunden vor dem Bronzematch. Es fehlte die Überzeugung, sich noch mal aufraffen zu können. Irgendwie kehrte sie vor dem Match doch zurück.

Hilfe von oben "musste ich annehmen"

Bereits im Viertelfinale musste Ovtcharov psychisch außerordentliches leisten. Gegen den Brasilianer Hugo Calderano lag er 0:2-Sätze hinten, im dritten Durchgang führte der Südamerikaner ebenfalls, ehe der Deutsche im Kopf einen Weg aus der Sackgasse fand. „Es lief zweieinhalb Sätze überhaupt nicht, aber dann habe ich ins Spiel gefunden und es plötzlich gedreht“, blickte Ovtcharov zurück.

Gegen den Taipeh-Chinesen im Spiel um den dritten Platz musste er sich erneut gegen erhebliche Widerstände durchsetzen. Im ersten Satz wehrte Ovtcharov einen Satzball ab, im sechsten Durchgang gar vier Matchbälle. „Bei einem Matchball hatte er eine gute Chance und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, das war es jetzt für mich. Als er den Ball verschlagen hat, sagte ich mir: Das ist eine Hilfe von ganz oben. Das musste ich annehmen“, berichtete Ovtcharov von Zwiegesprächen der außernatürlichen Art.

Es gab innerhalb der ersten Sätze Phasen, in denen der Deutsche körperlich und mental müde wirkte. Mit bemerkenswerter Beharrlichkeit gelang es Ovtcharov, sich immer wieder aus den kleinen Tiefs herauszuziehen. „Was für ein Rollercoaster in diesen Tagen“, sagte der Deutsche. Die Achterbahnfahrt wurde mit einer Medaille belohnt. „Das ist verrückt“, sagte Ovtcharov und schüttelte ungläubig den Kopf.