Der Dopingfall einer Riesaer Heberin wird zum Kriminalfall

Riesa. Es ist eine Geschichte, die Rätsel aufgibt. Viele Rätsel. Und es ist eine Geschichte, mit der sich inzwischen die Staatsanwaltschaft Chemnitz, ein Rechtsanwalt aus Berlin, ein Biochemie-Professor aus Maastricht und die in Lausanne ansässige International Testing Agency (ITA) beschäftigen. Womöglich wird aus der Geschichte noch ein Kriminalfall.
Es gilt herauszufinden, ob die Gewichtheberin Vicky Schlittig aus Gröditz bei Riesa bei den Junioren-Europameisterschaften Ende September 2021 gedopt war. Oder aber ob auf sie ein Doping-Anschlag verübt wurde. In einer Stellungnahme, die der Berliner Rechtsanwalt Steffen Lask, der die 18-jährige Schlittig vertritt, in dieser Woche an die ITA geschickt hat, wird ein Anschlag als „mögliche Erklärung“ für die positiven Proben genannt.
Dass sich bei den Titelkämpfen im finnischen Rovaniemi in ihrem Urin eine verbotene Substanz befand, ist inzwischen ebenso unstrittig wie die Tatsache, dass der Urin auch tatsächlich von Schlittig stammt. Um eine Verwechslung auszuschließen, hatte sie einen DNA-Vergleich beantragt. Diese Analyse einzuholen, lag auf der Hand, schließlich gab es bei der Probenentnahme zumindest eine Ungereimtheit. Das ausgefüllte Protokoll hatte die ITA mit den Namen eines iranischen Gewichthebers versehen und nicht mit dem von Vicky Schlittig. „Die Agentur erklärte uns gegenüber, dass dies ein systembedingter, interner Fehler gewesen sei, aber kein relevanter, da die angegebenen Nummern alle korrekt waren“, erklärt Lask, der als Honorarprofessor für Sportrecht an der Fachhochschule Potsdam lehrt.
Schlittig, die sich zum laufenden Verfahren selbst nicht äußern möchte, beteuert ihre Unschuld. Im Analysebericht der ITA gibt es zumindest ein Indiz für die These, dass sie nicht Täter ist, sondern Opfer. Nachgewiesen war bei ihr eine geringe Konzentration des Wirkstoffs Dehydrochlormenthyl-Testosteron, kurz DHCMT. In der DDR wurde der im Präparat Oral-Turinabol verwendet, einem der am häufigsten eingesetzten Dopingmittel.
Nimmt man Testosteron ein, produziert der Körper Abbauprodukte oder Sekundärstoffe, sogenannte Metaboliten. Manche, die Langzeit-Metaboliten, sind dabei länger nachweisbar als der Wirkstoff selbst. Forscher der vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) akkreditierten Anti-Doping-Labore entdeckten 2014 Methoden, mit deren Hilfe man diese Nebenprodukte noch lange nach dem Absetzen des Dopingmittels finden kann. Daraufhin waren rund 1.500 eingefrorene Proben von den Olympischen Spielen 2008 und 2012 aufgetaut und erneut untersucht worden. Mehr als 100 Sportler konnten so des Dopings überführt werden. Mit der Methode seien Athleten aufgeflogen, die „altbekannte Steroide wie Dehydrochlormenthyl-Testosteron oder das alte Oral-Turinabol genommen haben und Stanozolol“, hatte der stellvertretende Leiter des Kölner Instituts für Biochemie, Hans Geyer, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt.

Das Rätselhafte am Fall Schlittig ist: In der Analyse fehlen sämtliche Hinweise auf diese Metaboliten. Lask fragte deshalb bei der ITA nach, ob sie nicht nachgewiesen wurden oder ob man sie nicht aufgelistet hat und erhielt als Antwort, dass man sich mit den bereits ausgehändigten Analyse-Dokumentationen der A- und B-Probe zufriedengeben müsse.
Lask schaltete daraufhin einen Sachverständigen ein. Der Niederländer Douwe de Boer ist ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, leitet das Diagnostiklabor an der Medizinischen Universität Maastricht, wurde 1997 mit dem Manfred-Donike-Preis ausgezeichnet. In einem neunseitigen Gutachten vertritt er die These, dass das Nichtvorhandensein der Metaboliten gegen die Annahme spricht, dass Schlittig „bewusst oder unbewusst DHCMT zu sich genommen hat und dies über ihren Körper verstoffwechselt wurde“.
War es so, muss die Dopingsubstanz nachträglich in Schlittigs Urin gelangt sein – also eine Manipulation oder juristisch formuliert ein Anschlag. Die ITA, die im Auftrag des internationalen Gewichtheber-Verbandes IWF die Tests durchführt und bei Positivfällen auch die Verfahren leitet, begutachtet nun die Stellungnahme und trifft dann eine Entscheidung. Hält sie die von Schlittigs Seite vorgetragenen Argumente für nicht stichhaltig, droht eine Sperre von zwei Jahren. Mindestens. Bisher ist die Gröditzerin, die 2020 als Jugendsportlerin des Jahres in ihrer Sportart geehrt worden war, nur vorläufig suspendiert.
Ärger droht noch von einer anderen Seite. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz, am dortigen Bundesstützpunkt trainiert Schlittig, hat Anklage wegen Verstoßes gegen das Anti-Doping-Gesetz erhoben. Dieses Gesetz gibt es seit 2015, es stellt die Einnahme wie den Handel mit verbotenen Mitteln unter Strafe. Die Staatsanwaltschaften werden automatisch aktiv, sobald die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) einen positiven Fall meldet.
Einen Termin für das Hauptverfahren vorm Amtsgericht Chemnitz gibt es noch nicht, Lask muss auch hier eine Stellungnahme abgeben. Verhandelt würde aufgrund des Alters der Beschuldigten wahrscheinlich vor dem Jugendgericht. Eine Geldstrafe wäre ein mögliches Urteil, ein Freispruch ein anderes. Im Gegensatz zu den Sportgerichten liegt die Beweislast hier aufseiten der Anklage.
Der Gewichtheber-Weltverband versinkt im Sumpf
Eine entscheidende Frage wird wohl auch dort nicht geklärt – die nach dem Motiv. Vorausgesetzt, die Urinprobe wurde tatsächlich mit der Dopingsubstanz verunreinigt: Wer sollte das machen? Und warum bei einer Nachwuchsheberin, die bisher weder bei Weltmeisterschaften noch bei Olympischen Spielen angetreten ist?
Eine mögliche Antwort findet man beim Gewichtheber-Weltverband IWF, der jahrelang vom Ungarn Tamas Ajan geleitet wurde. Nach Enthüllungen der ARD-Doku „Der Herr der Heber“ im April 2020 musste der Präsident abtreten. Über ein Jahrzehnt hinweg waren offenbar fast 150 Dopingfälle verschleppt, vertuscht und damit nicht aufgeklärt worden. Das IOC zählte den Gewichtheberverband deshalb schon mehrfach an, strich Startplätze bei den Spielen 2024 in Paris, zum vorläufigen Wettkampf-Programm von 2028 gehört die traditionsreiche Sportart gar nicht mehr.
Seit dem Rücktritt von Ajan versuchen dessen langjährige Gefolgsleute im IWF, das Machtvakuum auszufüllen. Neuwahlen wurden mehrfach verschoben, gestritten wird auch darüber, welche moralischen Mindestvoraussetzungen die Kandidaten nun erfüllen müssen. Der deutsche Verband BVDG gehört zu den eifrigsten Verfechtern eines radikalen Neuanfangs auf der internationalen Heberbühne. Im Dezember 2020 schrieb BVDG-Präsident Florian Sperl, der gerne Vizepräsident des IWF werden möchte, einen offenen Brief. Darin fordert er den sofortigen Rücktritt des gesamten Vorstandes – und außerdem, „dass Mitgliedsverbände, die aufgrund von Dopingvergehen ihrer Athleten von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio ausgeschlossen wurden, nicht für die nächsten IWF-Wahlen zugelassen werden“. Die sollen nun Ende Juni stattfinden.
Ein Dopingfall in den eigenen Reihen würde die drei deutschen Kandidaturen – auch für die Trainerkommission und die Technische Kommission gibt es Bewerber – zwar nicht ausschließen, die Chancen stünden aber nicht gerade gut. Wer sich so vehement für eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Dopingsündern einsetzt und dann von einem positiven Test eingeholt wird, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Würde ein 18-jähriges Talent aus Gröditz tatsächlich das Opfer einer Funktionärs-Intrige, wäre das der nächste Skandal bei den Gewichthebern.