Riesa
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Stahlwerk baut modernsten Knast der DDR

Im September 1977 ziehen 500 Häftlinge von Riesa nach Zeithain um – und entkommen so auch einer Kakerlakenplage.

Von Antje Steglich
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Die Strafvollzugseinrichtung Zeithain wird am 2. September 1977 eingeweiht. Der damalige Leiter führt dabei auch die Leitung der Abteilung Strafvollzug im Ministerium des Innern durch das Gefängnis. Im Hintergrund sind Türme des Rohrwerkes zu sehen.
Die Strafvollzugseinrichtung Zeithain wird am 2. September 1977 eingeweiht. Der damalige Leiter führt dabei auch die Leitung der Abteilung Strafvollzug im Ministerium des Innern durch das Gefängnis. Im Hintergrund sind Türme des Rohrwerkes zu sehen. © Hauptstaatsarchiv Dresden

Riesa. Dieser Montagmorgen im September 1977 ist für die Häftlinge in der Strafvollzugseinrichtung an der Strehlaer Straße in Riesa ein besonderer. Knapp 500 Männer sitzen zu dieser Zeit laut Monatsrapport in dem Haftlager ein, manche Unterlagen sprechen sogar von 600 Gefangenen.

Die baulichen und hygienischen Zustände in den Holzbaracken entsprechen schon lange nicht mehr den Anforderungen des Strafvollzuges der DDR. Zudem gibt es immense Sicherheitsbedenken – und eine Kakerlakenplage. Nach zehn Jahren Betrieb soll das Haftlager deshalb endlich schließen, der Umzug nach Zeithain steht an.

Der Tag ist straff durchorganisiert. Die Frühschicht rückt zunächst wie gewohnt zur Arbeit unter anderem ins Stahlwerk nach Riesa, ins Rohrwerk Zeithain oder zum Jochplatz nach Wülknitz aus. Die restlichen Gefangenen werden in Gruppen zu je 30 Mann aufgeteilt und mit Lkw bis nach Zeithain gebracht.

Gemeinsam mit einem Offizier und begleitet von Polizeifahrzeugen mit Blaulicht sitzen sie auf den Ladeflächen des Lasters vom Typ S 4 000. Hinter den hohen Betonmauern angekommen, werden die Häftlinge zunächst in den Keller vom Hafthaus geführt, wo sich normalerweise Lagerräume und Arrestzellen befinden. „Dort mussten alle gründlich duschen und wurden alle komplett neu eingekleidet“, erzählt eine ehemalige Mitarbeiterin. Die Leitung will so das Ungeziefer-Problem ein für alle Mal lösen. Keines der alten Kleidungsstücke, Bettwäsche oder Ähnliches darf mit in die neuen Zellen genommen werden.

Später wird genauso mit den Männern aus der Frühschicht verfahren, während parallel dazu auch Akten und jede Menge Handfesseln nach Zeithain gebracht werden müssen. Zudem eine Vielzahl an Waffen wie Schlagstöcke, Pistolen und Maschinenpistolen. Die Kampfgruppe – eine Art Freiwilligen-Armee mit Arbeitern aus den volkseigenen Betrieben – hilft mit. „Hier ereigneten sich einige Zwischenfälle, zum Beispiel fielen einige Gefangenenakten vom Auto beziehungsweise rutschten durcheinander“, heißt es über den Umzug in einer Broschüre der späteren JVA Zeithain.

Größere Zwischenfälle bleiben aber aus. Vor allem die Arbeitseinsätze der Häftlinge können ohne Einschränkung fortgesetzt werden. Das ist zur damaligen Zeit besonders wichtig. Denn zwar sind die Strafvollzugseinrichtungen in Riesa und Zeithain rein organisatorisch dem DDR-Innenministerium und damit der Volkspolizei unterstellt, beide gehören allerdings der Volkswirtschaft und dienen nur der Arbeitskräfte-Beschaffung.

Das Haftlager an der Strehlaer Straße betreiben Deutsche Reichsbahn und das VEB Rohrkombinat Stahl- und Walzwerk Riesa noch gemeinsam. Ganz grün sind sich die Unternehmen jedoch von Anfang an nicht, es gibt immer wieder Aussprachen unter anderem über die Finanzierung.

Das neue Gefängnis will das Rohrkombinat dann ab 1972 auch allein bauen. Zumal die Reichsbahn überlegt, den Jochmontageplatz in Wülknitz zu schließen und damit auf die Häftlinge als Arbeitskräfte zu verzichten. Doch dann entscheidet der Betrieb, auf dem Jochplatz Langschienen behandeln zu lassen und ihn zum Oberbauwerk zu wandeln.

Deshalb hat die Reichsbahn plötzlich wieder ein großes Interesse an dem neuen Knast. Die Stahlwerksleitung stellt sich zwar zunächst stur – muss die Reichsbahn nach deren offiziellen Protest aber doch mitbauen lassen. Mit zwei Jahren Verzug, in den Akten ist lediglich von anderen wichtigen Vorhaben des Rohrkombinates als Grund die Rede, beginnen 1974 die Bauarbeiten am ersten Bauabschnitt der StVE Zeithain.

Für mehr als 9,4 Millionen Mark entstehen ein Verwaltungsgebäude, Garagen, Hundezwinger und ein Unterkunftsgebäude für bis zu 680 Häftlinge. Rechtsträger ist das Rohrkombinat. Die Reichsbahn beteiligt sich aber mit 971 000 Mark am Bau und verpflichtet sich zudem zu baulichen und materiellen Leistungen mit einem ähnlichen Volumen.

Im Gegenzug werden dem Betrieb 70 Arbeitsplätze vertraglich zugesichert. Auch am zweiten und dritten geplanten Bauabschnitt will sich die Reichsbahn beteiligen, um sich weitere Arbeitskräfte zu sichern. Ein Hafthaus für weitere 520 Gefangene und Ergänzungsbauten sollen bis 1978 beziehungsweise 1985 entstehen. Zeithain wäre damit eines der größten Gefängnisse der DDR. Doch es bleibt beim ersten Bauabschnitt.

Am 2. September 1977 wird der Neubau eingeweiht, zehn Tage später ziehen die Häftlinge ein. Die Einrichtung gilt als der modernste Knast der Republik, und er ist ein Unikum, sagt der Historiker Jan-Henrik Peters, der sich im Auftrag der Deutschen Bahn mit der Geschichte des Strafvollzugs beschäftigte: „Zeithain ist ein Sonderfall in der DDR, normalerweise haben die Gefängnisse dem MdI gehört.“

Nach 1990 wandelt sich das Gefängnis zur Jugendstrafanstalt, wird ab 1999 unter anderem durch ein weiteres Hafthaus erweitert und später zur Justizvollzugsanstalt umfunktioniert. Das alte Hafthaus ist noch heute in Betrieb. Statt 680 ist dort heute offiziell Platz für knapp 200 Häftlinge.

Der nächste Teil der Serie „Zwischen Haft und Hölle“ erscheint am 13. Dezember, in der SZ. Ein ehemaliger Häftling erzählt dann vom Alltag in Zeithain.

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