Von Daniel Klein, Leipzig
Mit wedelndem Zeigefinger rannte Timo Werner fast über den gesamten Platz. Allein. Er wollte diesen Moment genießen, es steckte auch ein gutes Stück Genugtuung im Sololauf nach seinem Tor, dem 1:0 gegen Hertha BSC. Viel war in den vergangenen zwei Wochen auf den Leipziger Stürmer eingestürzt, Schwalbenkönig und Elfmeterschinder gehörten noch zu den harmloseren Titeln. Sportkommentator Marcel Reif etwa forderte, man müsse ihm „den Hintern versohlen“. Und einige Zeitungen nahmen gleich den ganzen Verein in Sippenhaft, schrieben von „Rasenfallsport“. Die Reaktionen auf Werners Flugeinlage gegen Schalke waren heftig, teilweise wurden Grenzen überschritten.

Und die Kritik hinterließ Spuren beim gefährlichsten RB-Angreifer, dies zeigte nicht nur sein außergewöhnlicher Jubel. Nach dem Spiel, das Leipzig gegen überforderte Berliner 2:0 gewann, stapfte der 20-Jährige wortlos in die Kabine. „Mir ist wichtiger, was er auf dem Platz sagt“, erklärte Sportdirektor Ralf Rangnick. „Und das hat mir gefallen.“ Nicht nur ihm. „Es war nicht leicht für Timo, der Treffer deshalb sehr, sehr wichtig. Heute war er wieder der Alte“, fand Trainer Ralph Hasenhüttl.
Sein Tor kurz vor der Halbzeit nach Vorlage des später verletzt ausgewechselten Naby Keita war auch deshalb so wertvoll, weil Hertha den Leipziger Tempo-Fußball mit einer Defensiv-Taktik stoppen wollte. Zwei Vierer-Reihen hatte Trainer Pal Dardai aufgeboten, um RB ein Spiel aufzuzwängen, das der Liga-Neuling eigentlich nicht mag: viel Ballbesitz, Quer- und Rückpässe, geduldig die Lücke suchen. Das jedoch machte die Mannschaft erstaunlich abgeklärt, hätte viel früher in Führung gehen können und am Ende höher gewinnen müssen.
Vor allem aber verteidigte der Aufsteiger höchst effektiv. „Ich hatte nichts zu tun, keine Flanke, überhaupt nichts“, wunderte sich Torhüter Peter Gulacsi. Sein Eindruck täuschte nicht: In 90 Minuten gab Hertha, bis dahin immerhin Tabellendritter, keinen einzigen Schuss aufs Tor ab. Während Willi Orban, der nach der Pause völlig ungedeckt das 2:0 köpfte, noch rätselte („Ich weiß nicht, was mit denen los war“), tippte Stefan Ilsanker: „Hertha hat einfach keine Mittel gegen uns gefunden.“
So ähnlich formulierte das auch Dardai, dessen Analyse ungewöhnlich kurz ausfiel: „Heute war nichts drin für uns, kein Punkt, kein Etwas, Leipzig war zu schnell für uns“, sagte er. Wie der Plan ursprünglich mal ausgesehen hatte, verriet Stürmer Julian Schieber. „Wir wollten ganz dreckig spielen. Das ist uns nicht gelungen“, sagte er.
Für die Rasenballer war es Spiel eins nach der ersten Saisonniederlage vor einer Woche in Ingolstadt. „Ich wollte eine Reaktion sehen, und die Mannschaft hat nicht enttäuscht“, meinte Hasenhüttl. Der Sieg war auch angesichts der Ergebnisse der Verfolger aus Leipziger Sicht höchst erfreulich. Der Vorsprung auf Platz drei wuchs auf sechs Punkte, die Qualifikation für die Champions League ist ein mehr als realistisches Szenario, in der Mannschaft aber kein Thema, versichern alle unisono.
Zudem zeichnet sich ein Zweikampf zwischen dem Emporkömmling aus Leipzig und dem Münchner Serienmeister ab. Selbst das wollte in RB-Kreisen so jedoch niemand bestätigen. Dass es am Mittwoch zum Jahresabschluss genau zu diesem Duell kommt, zeugt von nahezu prophetischen Fähigkeiten des Spielansetzers. Verteidiger Ilsanker freut sich wie der Rest der Mannschaft. „Wir sind unheimlich stolz, bleiben aber demütig“, betonte der Österreicher, um dann doch etwas forscher zu werden. „Für uns spricht einiges: wir müssen nicht – wir wollen, wir können. Und wir gehen mit breiter Brust in dieses Spiel.“
Falls am Ende der Saison das eintreten sollte, was in Leipzig alle ins Reich des Unmöglichen verbannen, wäre RB auch darauf vorbereitet. Die Spieler haben in ihren Verträgen Prämien für den Gewinn der Meisterschaft und das Erreichen der Champions League stehen – und das teilweise seit Jahren. „Das ist ganz normal und gang und gäbe in der Bundesliga“, erklärte Rangnick. „Wir wollten den Spielern schon aufzeigen, wo wir langfristig hinwollen.“
Das könnte schon früher klappen als geplant. Und das dürfte Geldgeber Dietrich Mateschitz freuen, der Chef des Red-Bull-Imperiums saß erstmals bei einem Bundesliga-Spiel der Leipziger auf der Tribüne. Nach dem Abpfiff ging er in die Kabine, über den Inhalt der Ansprache wollte jedoch niemand etwas verraten – außer: „Er hat uns zum Sieg gratuliert. Immer, wenn er da ist, gewinnen wir“, sagte Orban. „Am Mittwoch soll er ja auch kommen.“
Mateschitz musste mit ansehen, dass der Protest gegen sein Projekt mal wieder für einen Eklat sorgte. Berliner Fans entrollten ein Spruchband mit einer Anspielung auf eine frühere Erkrankung von Rangnick. „Ey Ralf, wir warten sehnlichst auf deinen nächsten Burnout“, stand darauf. Manager Michael Preetz entschuldigte sich umgehend: „Hertha BSC distanziert sich von diesem widerlichen Banner.“