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Stoiker statt Hampelmann

Peter Gulacsi passt nicht so richtig zum Spektakel-Fußball von RB Leipzig. Genau deshalb hat der Torhüter einen Stammplatz.

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© Mike Worbs

Von Daniel Klein

Seinen ersten Arbeitseinsatz für RB Leipzig absolviert Peter Gulacsi im August 2015 im Werner-Seelenbinder-Stadion in Luckenwalde. Regionalliga Nordost, 605 Zuschauer. Sein Dienst endet schon nach 51 Minuten und einem Handspiel außerhalb des Strafraumes. Der Torhüter hockt in der Kabine, wartet auf seine Mitspieler und hat viel Zeit zum Nachdenken.

Zwei Monate zuvor war er mit Salzburg Meister, ist als bester Torhüter der Liga geehrt worden, hatte in der Europa League gehalten. Und nun – Luckenwalde. „Ich habe dagesessen und gegrübelt: Was ist mit dir los? Ich kann doch nicht alles verlernt haben“, erzählt der Ungar im Gespräch mit der SZ. „Es ist einfach alles schiefgelaufen.“

Schon sein erster Pflichteinsatz verzögert sich, weil die Vier-Spiele-Sperre, die er sich bei seinem letzten Einsatz in Österreich durch ein grobes Foul eingehandelt hatte, auch in Deutschland galt. Also saß Gulacsi erst auf der Tribüne und dann auf der Bank, doch er wollte unbedingt spielen. Er fragte, ob er bei der zweiten Mannschaft aushelfen kann – in Luckenwalde. „Es war keine einfache Zeit. Meine Frau, meine Familie und mein Berater haben mir da geholfen“, erinnert er sich. Wer seinen Einstand derart verbockt, hat es schwer beim neuen Arbeitgeber und bei den Fans. Er bekommt das Etikett Fehleinkauf angeheftet.

Zweieinhalb Jahre später empfangen die Rasenballer im DFB-Pokal Bayern München. Wieder spielt Leipzig lange in Unterzahl, doch Gulacsi muss diesmal nicht vorzeitig in die Kabine. Im Gegenteil: Die Fans feiern ihn, skandieren seinen Namen, weil er die Gegenspieler und vor allem Robert Lewandowski zur Verzweiflung treibt, seine Mannschaft erst in die Verlängerung und dann ins Elfmeterschießen rettet. Dort unterliegt Leipzig zwar, Gulacsi aber ist nun ein Name, den nicht mehr nur Insider kennen. Plötzlich steht er im Rampenlicht.

„Natürlich merke ich das“, sagt er „Und es freut mich, weil ich lange und geduldig für diesen Moment gearbeitet habe.“ Ein Dreivierteljahr nach seinem Wechsel von Salzburg nach Leipzig bekommt er endlich die Chance, auf die er gewartet hatte. Stammkeeper und Publikumsliebling Fabio Coltorti verletzt sich an der Schulter, Gulacsi rückt nach. Der Stellvertreter macht seine Sache gut – und unspektakulär, er fällt kaum auf. Die Mannschaft steigt in die Bundesliga auf, die Fans feiern Yussuf Poulsen und Emil Forsberg, später Timo Werner und Naby Keita. Die stehen für Dynamik, Tempo und Tore. Europas Topklubs stehen Schlange, bieten teilweise unmoralische Ablösesummen. Und Gulacsi? Der Torwart ist kein Showman, kein Hampelmann, sondern sachlich, nüchtern. Er zieht sich privat keine schrill-roten Sakkos an wie Keita, fährt keine teuren Sportwagen.

Fast wirkt er wie ein Gegenentwurf in diesem Verein, der auch bei der Entwicklung ein Wahnsinnstempo vorlegt, Seine Mitspieler sind selten älter als Anfang 20, Gulacsi ist 27, die Haare kann er nicht modisch stylen, weil er nur noch wenige hat. Er ist ein Typ, den man leicht unterschätzen kann. Doch das wäre ein Fehler.

Beharrlich verfolgt Gulacsi seine Ziele. Er ist 17 und die Nummer drei bei MTK Budapest, als er aus Mangel an Perspektiven ein Probetraining beim FC Liverpool absolviert. „Mir war sofort klar: In dieser Welt will ich bleiben“, sagt er. Der Stellenwert des Fußballs, die Atmosphäre – alles ist anders an der Anfield Road. „Es ist einer der größten Vereine der Welt.“ Um sich schneller zu integrieren und die Sprache zu lernen, sucht er sich Gasteltern, der Kontakt zu ihnen reißt nie ab.

Zwar absolviert er in den sechs Jahren kein einziges Pflichtspiel für die Reds, wird häufig in die zweite und dritte englische Liga ausgeliehen. Missen will er die Zeit aber nicht. „Ich musste mit 17 ganz schnell erwachsen werden, das prägt. Außerdem konnte ich zusammen mit Steven Gerrard, Xabi Alonso, Fernando Torres und Luis Suarez trainieren, also Weltklasse-Spielern. Das war eine wichtige Erfahrung.“

Beim Leipziger Schwesternklub in Salzburg steigt er endlich zur Nummer eins auf, seit dem Frühjahr 2016 ist er es auch bei den Rasenballern.

Weniger verrückte Typen

Doch unumstritten war er lange Zeit nicht, die Namen Bernd Leno und Timo Horn kursieren. Inmitten des Offensivspektakels wirkt Gulacsi wie ein Stoiker. Damit, findet er selbst, liege er im Trend. In den vergangenen zehn Jahren habe sich das Torwart-spiel stark verändert. „Davor gab es viele verrückte Typen, die extrem viele Aktionen hatten, intuitiv und teilweise wie im Handball agierten. Jetzt geht es in eine andere Richtung: seltener im Mittelpunkt, dafür aber immer ganz saubere, klare Aktionen. Ich bleibe immer ruhig, versuche, nicht den Kopf zu verlieren. Das ist mein Stil.“

Mit dem hat er sich durchgesetzt bei RB. Als im Sommer das Talent Yvon Mvogo aus der Schweiz für fünf Millionen Euro verpflichtet worden war, glaubten viele, dass Gulacsi nun auf die Bank müsse. Doch Hasenhüttl hielt an seinem Stammkeeper fest, gönnte ihm nur eine Pause. Prompt verlor Leipzig in Augsburg.

Gulacsi ist die Nummer eins beim Vizemeister, spielt in der Champions League und folgte auf Gabor Kiraly in der ungarischen Auswahl – welche Ziele bleiben da noch? An Titel und Pokale denkt er bei der Frage nicht zuerst, auch das ist typisch für ihn. „Durch den permanenten Druck und die Konkurrenz ist es extrem schwierig, auf diesem Level zu bleiben“, sagt er. Trotzdem wolle er sich noch weiter verbessern. Und doch, etwas gibt es, dass er sich sehnlichst wünscht: Bei der EM 2020 werden drei Partien im neu gebauten Stadion in Budapest ausgetragen. Qualifiziert sich Ungarn fürs Turnier, hätte die Auswahl drei Heimspiele.

Kürzlich überraschte Gulacsi ein Paar bei der Hochzeit – in einem Krankenhaus. Die Braut kämpft gegen den Krebs, ihr Sohn ist großer Fan des Torwarts. Beim Heimspiel gegen Werder Bremen vergangenen Samstag durfte er an der Seite von Gulacsi ins Stadion laufen. Fast zeitgleich zum Krankenhausbesuch wird Keitas Führerscheinproblem öffentlich.