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Strand, Dreck und Schützengräben

Wenige Kilometer vor den Toren von Mariupol wird gekämpft. Die Hafenstadt leidet unter den Folgen des Kriegs in der Ukraine. Ihre Menschen sehen dem Niedergang fassungslos zu.

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Von Glamour ist in Mariupol wahrlich nichts zu sehen. Die Stadt  leidet auch unter der russischen Seeblockade.
Von Glamour ist in Mariupol wahrlich nichts zu sehen. Die Stadt leidet auch unter der russischen Seeblockade. © Till Mayer

Von Till Mayer

Iryna Markovska liebt diesen Platz. Der Wind vom Meer vertreibt den Dunst, der bei ungünstigen Winden von den gewaltigen Schloten des Stahlwerks wie eine graue Decke über die Stadt zieht. Hier oben weht eine frische Brise. Ein kleiner Park mit Nadelhölzern, die Laubbäume strecken ihre kahlen Äste in den grauen Himmel. Von der Anhöhe schweift der Blick auf das Meer. Davor ducken sich kleine Häuser an den Hang.

Nicht die üblichen monotonen Wohnblocks aus Sowjetzeiten, die sonst das Stadtbild prägen. Es folgt ein gelber Streifen Sand. Dann ziehen die gewaltigen Kräne die Blicke auf sich. Mächtig stehen sie auf den Kais.

Der Hafen und die Familie von Iryna Markovska, das gehört seit fast 100 Jahren zusammen. Der Hafen hatte ihren Großvater zum Helden gemacht. Der Dockarbeiter verlor fast seinen Arm, als er verhinderte, dass eine ganze Ladung Kohlen seine Kollegen verschüttete. „Das haben ihm seine Kumpels nie vergessen“, sagt die Enkelin. Sie kramt ein altes Bild aus ihrer Handtasche hervor. Stolz zeigt sie das Schwarz-Weiß Foto. Der Großvater steuert darauf eine mächtige Raupe durch die Docks.

Das bescheidene Haus, das die Großeltern am Stadtrand errichtet haben, beherbergt bis heute die Familie. Auf das Eigenheim ist Iryna Markovska stolz. Weiß gestrichen, mit kleinem Vorgarten, so hebt es sich von den farblosen Wohnblocks der Nachbarschaft ab. „Mein Großvater hat so viel Kraft hineingesteckt“, erklärt sie. Der Großvater ist seit einigen Jahren nicht mehr am Leben. Seiner Frau kommen oft die Tränen, wenn sie am Küchentisch durch alte Fotos blättert. Bilder, auf denen ihr Mann noch jung war. So manche Aufnahme zeigt den alten Hafen.

Jeder in der Familie hat im Hafen gearbeitet. Die Großmutter und die Mutter in der Verwaltung. Der Vater spazierte als Matrose einer der großen Frachter durch die Bürotür schnurstracks in das Herz der Mutter.

Iryna Markova liebt ihre Stadt - trotz aller Probleme, die sie mit ihr hat.
Iryna Markova liebt ihre Stadt - trotz aller Probleme, die sie mit ihr hat. © Till Mayer


Iryna Markovska selbst hatte eine Stelle in dem Kindergarten des Hafens, als sie eines Tages Evgeniy Markovskiy vorbeischlendern sah. Sie verliebte sich in den Dockarbeiter. Die Hafenarbeiter-Familientradition des heute 38-Jährigen reicht sogar noch eine Generation weiter zurück als die seiner Frau.

„Um es kurz zu sagen, ohne den Hafen kann ich mir Mariupol einfach nicht vorstellen. Er gehört zu meinem Leben und dem meiner Familie untrennbar dazu“, sagt die 30-Jährige. Die junge Frau steht zu ihrer Stadt, die jetzt im hereinbrechenden Winter besonders unwirtlich wirkt. Mächtige Wohnblocks reihen sich aneinander. Ein Boulevard zieht sich durchs Zentrum mit Prunkbauten aus Stalins Zeiten links und rechts des Asphalts.

So manche der Gebäude brauchen mehr als nur Farbe für die Fassade. Der einst schickste Nachtclub von Mariupol, „Cleoprata“, im Herzen der Stadt wartet seit Jahren nur noch mit verrammelten Fenstern und Türen auf. Er wirkt wie ein Sinnbild für vieles in der Stadt.

Das Stahlwerk malt mit seinen Abgasen Schlieren über das Betongrau der Häuser in den finsteren Winterhimmel. Alles wirkt ziemlich freudlos auf den Besucher. Irina Markovska liebt trotzdem ihre Heimat. „Mariupol hat viele schöne Plätze“, sagt sie. Dabei hat selbst der Hafen ihr nicht gut mitgespielt.

2014 bekommt die junge Frau eine niederschmetternde Diagnose: Krebs. Die Familie verkauft ihr Auto, die Mutter gibt ihr gesamtes Erspartes, damit die Chemotherapien und Operationen bezahlt werden können. Dazu der Konflikt mit den von Russland unterstützen Separatisten. Für eine kurze Zeit war die Hafenstadt unter Kontrolle der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“.

Das Stahlwerk gehört dem Millardär Renat Akhmetov,er ist der mächtige Mann von Mariupol. 
Das Stahlwerk gehört dem Millardär Renat Akhmetov,er ist der mächtige Mann von Mariupol.  © Till Mayer


Als Iryna Markovska von Krankheit und Chaos erzählt, kommen ihr die Tränen. Sie hat das Chlor als einen Grund für die Krebserkrankung in Verdacht. Wenn sie die Kindergartenräume und die Geräte sauber machte, dann kam sie damit in Berührung, erklärt sie. Aber wie soll sie beweisen, dass das mit dem Krebs zusammenhängt? In einer Stadt mit einer gigantischen Dreckschleuder auf der einen Seite und einem gewaltigen Friedhof auf der anderen, in dem viel zu viele Menschen begraben liegen, die kaum 50 Jahre alt wurden. Das Stahlwerk macht seit Sowjetzeiten die Menschen krank.

Als sich Iryna Markovska wieder arbeitsfähig meldet, bekommt sie vom Arbeitgeber eine Stelle als Putzfrau zugewiesen. „Das war ein Schlag ins Gesicht. Aber ich wollte weiter im Hafen arbeiten“, sagt sie. Und so wischt sie Fußböden, bis ihre Kraft es nicht mehr zulässt. „Sie hätten mir doch eine andere, leichtere Arbeit geben können. Stattdessen zogen sie es vor, mich zu entlassen“, meint sie.

Sogar um den letzten Monatslohn muss sie kämpfen. Eine kleine unabhängige Hafenarbeitergewerkschaft hilft ihr. „Aber sie haben mich entlassen, weil mein Mann eben dort Gewerkschaftler ist“, ist sie sich sicher. Die kleine Gewerkschaft macht großen Ärger, klagt immer wieder gegen den Hafenbetreiber. Der ist wiederum von Milliardär Renat Akhmetov abhängig. Er ist der mächtige Mann von Mariupol, ihm gehört das Stahlwerk.

Nur wenige Kilometer vor der Stadt verläuft die Frontlinie zu den Gebieten der Separatisten. 
Nur wenige Kilometer vor der Stadt verläuft die Frontlinie zu den Gebieten der Separatisten.  © Till Mayer


Über den Hafen ziehen dunkle Wolken auf, seit der Konflikt im Donbass für schlechte Geschäfte sorgt. Das Stahlwerk produziert weniger, seitdem Kunden aus Russland fehlen. Die Menge der verschifften Tonnage sinkt und sinkt. Mehr und mehr Stahl aus dem Mariupoler Werk wird auf die Schiene verladen und in Odessa auf die Frachter. „Die Russen kontrollierten schon vor dem Vorfall und der folgenden Blockade die Schiffe peinlich genau. Da gehen schon mal zwei, drei und mehr Tage verloren. Das kostet die Reeder viel Geld. Ganz abgesehen davon, dass manche der großen Frachter aufgrund ihrer Größe die Brücke in der Straße von Kertsch nicht mehr passieren können. 2012 wurden noch 18 Millionen Tonnen verschifft, jetzt sind es gerade noch fünf im Jahr“, erklärt Gewerkschaftsfunktionär Oleg Gusac. Der jüngste Vorfall mit den ukrainischen Marineschiffen in der Straße von Kertsch und der folgenden Blockade verschärft die Lage noch einmal und zeigt die Verwundbarkeit des Seewegs nach Mariupol.

Gusac, Schnauzer und grauer Scheitel, ist selber ein Hafenarbeiter. In seiner Abteilung seien von einst 260 Mitarbeiterin im Jahr 2014 noch 140 Dockarbeiter übrig. Insgesamt arbeiten weit über 3 000 Menschen im Hafen.

Dockarbeiter verdienten einst für ukrainische Verhältnisse ausgesprochen viel Geld. Mit Zulagen und Extrastunden kamen sie auf satte 800 Euro, jetzt sind es kaum noch über 270 Euro. „Der Verdienst der Dockarbeiter hängt von den Verlade-Prämien ab“, sagt der Gewerkschaftler. „Es gibt aber immer weniger zu verladen“, seufzt er.

Ob es seine kleine Gewerkschaft noch lange gibt, weiß er nicht. Von einst 75 Mitgliedern sind derzeit noch ganze 25 Mann übrig. „Der Arbeitgeber macht unseren Leuten ordentlich Druck“, erklärt er. Dann zieht er die Kopie einer Liste hervor: „Das ist der Vorschlag der Hafenverwaltung für eine mögliche Mobilisierung der Armee. Die Liste besteht fast ausschließlich aus unseren Gewerkschaftlern. Der Älteste geht langsam auf die 60 zu.“

Oleg Gusac lacht bitter. Iryna Markovska kann da nur den Kopf schütteln. Sie schmerzt der Niedergang des Hafens, die gesamte Situation von Mariupol.

Die geografische Lage macht Mariupol zu schaffen. Russland kontrolliert den Zugang zum Asowschen Meer. 
Die geografische Lage macht Mariupol zu schaffen. Russland kontrolliert den Zugang zum Asowschen Meer.  ©  dpa


Knapp 20 Kilometer vor der Stadt liegen sich die Schützengräben der ukrainischen Streitkräfte und der Separatisten. Die Kämpfer haben sich in ihren Stellungen eingegraben. Ein zäher, kalter Alltag in Erdbunkern. Der Schlamm schmatzt an den Stiefeln der Soldaten, wenn sie durch die Schützengräben patrouillieren.

Vor allem nachts rattern die Maschinengewehre. Es sind gespenstische, unwirkliche Bilder, die die Front, offiziell „Kontaktlinie“ genannt, bietet. Wie aus der Zeit gefallen wirken die unendlichen langen Gräben, wie unwirkliche Filmkulissen. Als 2012 in der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wurde, hatte niemand gedacht, dass bald ein Krieg bevorsteht. Auch Iryna Markovska nicht. Der Konflikt kostet weiter Menschenleben und verschlingt Unsummen an Geld. Mittel, die dem Ausbau der verarmten Volkswirtschaft bitter fehlen. „Manchmal frage ich mich, ob alle verrückt werden“, sagt Iryna Markovska und dreht ihrem Aussichtspunkt über dem Hafen den Rücken zu.

Vier, fünf Kilometer Luftlinie entfernt werfen ein paar Angler ihre Ruten aus. Direkt vor einem Abflussrohr des Stahlwerks. Schäumendes Abwasser kommt daraus hervor. Iryna Markova macht es fassungslos, so etwas zu sehen. „Die Gesundheit für die Menschen, die muss doch über alles gehen. Das dürfen wir einfach nicht vergessen“, sagt die junge Frau.

Bessere Filter für das Stahlwerk, eine funktionierende medizinische Versorgung und Gehälter, von denen die Menschen in Mariupol leben können, das fordert Iryna Markovska. Das ist viel verlangt in Mariupol, besonders zu Zeiten des Krieges.