Von Ralph Schermann und Bernd Dreßler
Das Pferd frisst keinen Gurkensalat. Das ist ein Satz, der Geschichte schrieb: Johann Philipp Reis hörte ihn in einem selbst gebastelten Hörrohr, als ihn ein Kollege ein Stockwerk tiefer in ein primitives Mikrofon murmelte. Das war 1856 und galt als Beweis: Töne sind technisch übertragbar.

Fast zeitgleich baute der Amerikaner Alexander Graham Bell ein ähnliches Gerät. Fernsprecher hieß es, später Telefon, und jetzt pfeifen den 50 Millionen deutschen Handybesitzern täglich 40 Millionen Kurznachrichten um die Ohren. Heute würden beide Herren wohl sogar noch per SMS und WhatsApp darüber streiten, wer eigentlich als wahrer Telefon-Erfinder gilt.
Den Görlitzern vor 130 Jahren war das egal. 1886 wusste man zwar in groben Zügen davon, was da mal erfunden worden war, doch es galt irgendwie als ferne Spielerei. Höchst amtlich dagegen war der erste für eine größere Nutzung ausgereifte Bell'sche Apparat 1876 Reichskanzler Otto von Bismarck vorgeführt worden, der die Bedeutung der Technik sofort erkannte. Prompt wurde sie, weil sie Nachrichten übermittelte, der Post unterstellt. Generalpostmeister Heinrich von Stephan hatte 1877 die Vision: „Jedem ein Telefon!“
Der Bürger aber wollte noch nicht. Das erste Berliner Telefonbuch von 1881 enthielt lediglich 171 Einträge und galt als „Buch der Narren“. Auch in Görlitz traf die Fernsprechidee auf wenig Ohrenfreude, als am 15. August 1886 offiziell der Fernsprechverkehr eingeführt wurde. Noch vier Jahre später waren es nur 35 Teilnehmer. Noch schrieb man lieber Ansichtskarten, um die 85 Briefkästen zu füllen und fünf Postämter zu beschäftigen. In Zittau hielt ein gewisser Julius Schmidt das Telefon sogar für eine Erfindung des Verderbens. Als sich abzeichnete, dass die Technik um Zittau keinen Bogen macht, teilte er dem Stadtrat mit, dass Fernsprecher Krankmacher seien. Er habe erfahren, dass an den Häusern, wo eine Leitung angebracht ist, „bei Luftströmung ein Geräusch entsteht, das sich in die oberen Etagen fortsetzt und so unangenehm werden soll, dass es nervösen Personen unmöglich ist, derartige Räume zu bewohnen“. Gefruchtet haben diese Einwände freilich nichts. Und wie das so ist mit den Erfindungen: Sie werden im Lauf der Zeit preiswerter, und sie werden zum Statussymbol, das auch der Nachbar gerne haben möchte. Und schon florierte das Drahtgeschäft: 1906 verzeichnete die Görlitzer Post 1 164 Telefonanschlüsse. Das waren zwölfmal so viel wie zugelassene Kraftfahrzeuge in einer Stadt, die rund 83 000 Einwohner hatte.
Mit Telefon und später auch Fernschreiber wurde das Postgebäude am gleichnamigen Platz zum Fernmeldeamt. Bevor sich die Hauptverbindungskabel durch den Erdboden fraßen, dienten die beiden markanten Türme als Ort, an dem alles zusammenlief. Unzählige Leitungen begannen hier an weißen Isolatorköpfen, und immer neue Kupferlitzen wurden von den Telegrafenarbeitern verlegt, womit gleichzeitig ein völlig neues Berufsbild bei der Post entstand. Innerhalb der Mauern stöpselten flotte Helferinnen die angeforderten Verbindungen zusammen (vorgeschriebene Begrüßungsformel: „Hier Amt, was beliebt?“), ehe die Selbstwähldrehscheibe das „Frollein vom Amt“ ablöste und die Vermittlung mechanisiert werden konnte. „Da klemmt ein Relais“ hieß es dann immer, wenn mal keine Verbindung zustande kam.
Das Zittauer Netz erreichte bald schon das Ausland bis nach Österreich. Dagegen wollten sich die Zittauer nicht mit Görlitzer Bestrebungen anfreunden, die sächsische und preußische Oberlausitz in einem gemeinsamen Fernsprechnetz zusammenzufassen. Unterschriften unter der Einwohnerschaft zu sammeln und Begehrlichkeiten zu wecken, wie in Görlitz geschehen, nütze nichts, wenn nicht die örtlichen Gegebenheiten stimmten und der Wille der Wirtschaft dahinter stehe, moserte die Zittauer Fernsprech-Lobby. Die Zittauer Nachrichten machten sich zu ihrem Sprachrohr, indem sie am 26. Juni 1887 schrieben: „Die in Betracht kommenden Industriellen werden sich nach ihrer praktischen Erfahrung im eigenen Geschäftsverkehr selbst sagen, dass die Kaiserliche Postverwaltung nicht auf einem mit zahlreichen zu nichts verpflichtenden Unterschriften versehenen Antrag hin ein Fernsprechnetz einrichten und nach einem Kostenaufwand von Hunderttausenden abwarten wird, wer dasselbe benutzen will.“ Offenbar wurde eine Vormachtstellung von Görlitz befürchtet. Süffisant bemerkte die Zeitung an anderer Stelle, das es „an der Landeskrone noch Jahre dauern werde, bis man das Zittauer Niveau erreicht hat. Nicht von ungefähr hat Görlitz über ein Jahr länger als Zittau gebraucht, um eine Stadtfernsprechanlage zu eröffnen.“ Zittauer behaupteten, Bautzen sei mit einem Netzversuch gescheitert, und Löbau möge sich doch mit seinen 13 Angemeldeten „am geeignetsten an unser Netz anschließen“. Man hielt an der Idee fest, Zentrale des Südlausitzer Fernsprechnetzes zu sein und setzte dabei vor allem auf böhmische Industrieorte wie Reichenberg und Warnsdorf. Es bestand damals eine Zittauer Fernsprech-Überheblichkeit, die bald schon von der wirtschaftlichen und der technischen Entwicklung überholt wurde.
Viel später empfanden DDR-Bürger diese technische Entwicklung leidvoll ganz anders. Denn mancher Anschluss wurde in den sozialistischen Zeiten gar nicht erst verlegt. In der DDR bestand permanenter Mangel an festen Anschlüssen, so dass vor allem die öffentlichen Telefonzellen sehr umlagert waren. Die Anschlüsse stiegen von 2 608 (1957) über 5 201 (1962) auf rund 11 000 (1989). Heute sind es fast viermal so viele Festnetzanschlüsse im Amtsbereich Görlitz. Und fast jeder hat ein Handy obendrein. Telefonieren ist längst abgekommen von der Notwendigkeit schneller Informationen. Es ist zu einem Freizeitvergnügen geworden, oft zu reiner Albernheit, wo das ungewollte Mithören in Bus und Bahn auf den Keks gehen kann.
Das hatten Reis & Bell sicher nicht gewollt. Dennoch: Sie haben der Menschheit eine der wichtigsten Erfindungen geschenkt. Dank ihr ist Görlitz seit 130 Jahren rund um die Uhr mit der gesamten Welt verbunden.