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Großartiges Konzert in Görlitz

Mahlers „Neunte“ wird selten gespielt, aus gutem Grund. Doch die Neue Lausitzer Philharmonie schultert sie dank Generalmusikdirektorin Ewa Strusinska.

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Ewa Strusinska
Ewa Strusinska © BARTEKBARCZYK.COM

Von Karsten Blüthgen

Dieser Anfang verheißt nichts Gutes, zumindest ist er ungewöhnlich für eine Sinfonie. Kein entschlossener Start, keine langsame Einleitung. Es sind eher Zuckungen, wiedererwachende Lebenszeichen, die zwischen Violoncello, Horn und Harfe wandern. Anderthalb Stunden später, nach einem zermürbenden Auf und Ab, soll sich ein Kreis schließen. „Ersterbend“ lautet die finale Spielanweisung in Gustav Mahlers neunter Sinfonie. Der Orchesterklang ist fahl geworden. Zuletzt entschwinden die Streicher in sphärische Weiten. Ins Jenseits, meinte Mahler.

Das Publikum im Görlitzer Theater spürte zur Eröffnung der neuen Konzertsaison, dass statt diesseitigen Optimismus im Orchestergewand etwas Übersinnliches geschehen sein musste. Allmählich, aber stetig wuchs der Applaus am Dienstag. Stürmisch wurde er nicht. Wortkarg, fast betroffen verließen die Menschen danach das Haus. Generalmusikdirektorin Ewa Strusinska hatte die Neue Lausitzer Philharmonie und sich selbst bei einem Schlüsselwerk der Musikgeschichte gefordert und dabei Großes geleistet.

Kurz vor dem Zeitalter der Moderne rührte Mahler an der Tonalität, reizte deren Möglichkeiten im Schluss-Adagio bis an die Grenzen aus, um einen durchaus persönlichen Abschied zu formulieren. „Wer darüber hinaus will, muss fort“, sagte Arnold Schönberg später zur Beisetzung seines Komponistenkollegen. 1908/09, ein gutes Jahr vor seinem Tode, war Gustav Mahler „so in Bewegung“ geraten. Möglicherweise ahnte er das Ende und schrieb eine gigantische Sinfonie, die sich, angereichert mit Zitaten, die bei Beethoven beginnen, als ein Adieu lesen lässt. Eine zehnte Sinfonie Mahlers blieb Fragment.

Strusinska ließ den Strom schon im ersten Satz stocken, das Tempo schleppte, energiereiche Spannungsbögen brachen jäh ab, als brächen Todesahnungen herein. Zu klar war der Ausdruck, um im folgenden Satz noch einen Scherzo-Charakter erkennen zu können: Die Polin ließ eher einen taumelnden denn einen tanzenden Ländler spielen. Fratzenhaft gleißte das Blech im Rondo-Satz, in den das finale Adagio schon deutlich hineinschien. Diesen langen Satz breitete die Dirigentin mit großer Ruhe, zugleich höchster Spannung aus, machte das Zerbrechliche hörbar. Die ins Extreme erweiterte Harmonik – Mahler nannte sie „Zeremonie des Erlöschens“ – ergriff unmittelbar, wirkte erlösend. Totenstille nach den letzten Tönen.

Zwar brachten Staatskapelle, Philharmonie und Boston Symphony die Sinfonie in jüngerer Zeit in Dresden zur Aufführung. Insgesamt aber erklingt die „Neunte Mahler“ auch hierzulande nicht häufig, was dem Werk guttut. Und wenn, dann wird sie zur existenziellen Erfahrung. Nicht anders bei der Neuen Lausitzer Philharmonie, die ihre Konzentration bündelte. Das Spiel der Soloflötistin Katrin Paulitz sei exemplarisch genannt für den Auftritt des Görlitzer Orchesters, das an Grenzen ging und in Phasen über sich hinauswuchs.