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Tausend Blüten für Paris

Im Dörfchen Wallroda entstehen aus feinem Stoff kleine Kunstwerke von Weltrang. Heide und Gerald Steyer sind die Letzten ihres Fachs in Deutschland. Wird ihre Kunst überleben?

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© Thorsten Eckert

Von Jana Ulbrich (Text) und Thorsten Eckert (Fotos)

Wallroda. Die Hochzeit von Prinz Harry und Meghan war – nun ja – eine kleine Enttäuschung. Jedenfalls für die Augen von Heide Steyer. Amerikaner mögen es eben leider nicht ganz so verspielt. Haben Sie den Hut von George Clooneys schöner Frau Amal gesehen? Pure, schlichte Eleganz. Keine einzige prunkvolle Seidenblüte. Auch an vielen anderen Hüten der Hochzeitsgäste nichts als Schlichtheit. Ob sich das durchsetzt?

Seltene Kunst: Petra Rothe hat ihr Handwerk zu DDR-Zeiten in der Sebnitzer Kunstblumen-Fabrik gelernt. Auch wegen ihr sind Steyers nach Wallroda gekommen.
Seltene Kunst: Petra Rothe hat ihr Handwerk zu DDR-Zeiten in der Sebnitzer Kunstblumen-Fabrik gelernt. Auch wegen ihr sind Steyers nach Wallroda gekommen. © Thorsten Eckert

Heide Steyer schmunzelt. Das will sie doch nicht hoffen. Schließlich gehört das britische Königshaus zu den wichtigsten Kunden der Kunstblumenmacherin aus dem kleinen sächsischen Wallroda. Und auch das schwedische, das spanische, das dänische . . . Heide Steyers filigranen Kunstwerke zieren die prominentesten Damenköpfe dieser Welt, wahlweise auch ihre Kleider oder ihre Schuhe.

Gerade erst hat ein Londoner Hutmacher sie angerufen. Sie müsse sich unbedingt die neue „Mary-Poppins“-Verfilmung ansehen. Heide Steyer ahnt natürlich, warum. Gespannt ist sie nur, für welche ihrer Blüten sich die Ausstatterin entschieden hat. Aber Mary Poppins muss sich noch ein bisschen gedulden. Im Moment haben Heide Steyer und ihr Mann Gerald keine Zeit für einen Kinobesuch. Sie sind am Packen. Mal wieder. Nächsten Sonntag fahren die beiden mit unzähligen blauen Kartons nach Paris. Die „Premier Vision“, eine große Fachmesse für Stoffe und Accessoires, ist jedes Jahr eine der weltweit wichtigsten Treffpunkte der Modebranche. Da dürfen auch die Steyers aus Wallroda mit ihrer Musterkollektion nicht fehlen.

Schließlich ist ihre kleine Manufaktur eine von nicht mal mehr einer Handvoll in Europa, in der noch die Kunst des Stoffblumenmachens beherrscht wird. Und das auch noch so fantasievoll, einzigartig und perfekt, dass kein Hutmacher und kein Modedesigner an ihnen vorbeikommt. Steyers Kunstblumenmanufaktur ist die Letzte, die es noch gibt in Deutschland. Vor 20 Jahren ist das Ehepaar deswegen extra von Berlin nach Sachsen gezogen. Weil es zu DDR-Zeiten hier in Sebnitz den volkseigenen Kunstblumen-Betrieb gab und Frauen, die das seltene Handwerk noch richtig gelernt haben.

Blütenblätter von Hand gefärbt

So wie Petra Rothe. Die 49-Jährige ist eine der drei festen Mitarbeiterinnen in Wallroda. Ihre geschickten Fingerspitzen kleben gerade feine, durchsichtige Blättchen aus Seidenorganza zu einer Wickenblüte. Jedes einzelne Blütenblatt hat Heide Steyer vorher von Hand gefärbt, ein sehr zarter Grünton, der in ein noch zarteres Rosa fließt. Das allein schon ist ein Kunstwerk für sich. Heide Steyer hat die Farben so lange gemischt, bis die künstlichen nun ganz und gar den echten Wicken in ihrem Garten gleichen.

Überhaupt ist ihr Garten ihre Inspiration. Hier blühen Rosen neben Clematis, Ringelblumen neben Kapuzinerkresse und üppigen Polstern. Im Frühjahr blüht die Kamelie dreifarbig. Ein Traum. Chanel zeigt immer kleine Kamelien auf den Schauen. Schon deswegen gehörten sie auch dieses Jahr wieder in die blauen Kartons für Paris. Heide Steyer hat diesmal kleine Kamelienblüten zu kleinen Sträußchen gebunden. Mal sehen, ob das den Designern gefällt.

Petra Rothe hat jetzt die Kelchblätter für die Wicken vor sich liegen. Ehe sie sie unter die Organza-Blüte schiebt, legt sie sie auf ein Körnerkissen und drückt sie mit einer kleinen, heißen Eisenkugel ein wenig rund. Wirklich nur ein wenig. Das wird die Blätter später viel natürlicher aussehen lassen. Blatt für Blatt für Blatt. Was für eine Arbeit für eine einzige Blume!

Petra Rothe lächelt ganz entspannt. „Ein bisschen ist das wie Meditieren“, sagt sie. „Man kann viel Nachdenken an so einem Arbeitstag.“ Und sie hat ja auch ständig etwas Neues unter ihren Fingerspitzen. Die Manufaktur produziert keine Massenware. Sehr oft sogar reine Einzelstücke. So wie die tellergroßen Rosenblüten, die dann auf den Hüten beim Ascot-Pferderennen wippen. Wehe, eine würde da der anderen gleichen!

Blüten für Schuhe

Nur im letzten Jahr haben die drei Mitarbeiterinnen mal drei Monate lang nur Maiglöckchen geformt. Immer nur Maiglöckchen. 960 000 Stück. Ein Großauftrag für einen italienischen Schuhdesigner. Die atemberaubenden Pumps mit den kleinen Blüten auf den Riemchen haben über 1 000 Euro gekostet. Die könnte sich Petra Rothe nicht leisten. Heide Steyer auch nicht.

Mit ihrer Handwerkskunst kann sie nicht reich werden. Finanziell zumindest nicht. Dafür aber im Herzen. Heide Steyer liebt diese filigrane Welt aus Samt und Seide, seit sie als junges Mädchen in einem Schaufenster auf dem Hamburger Jungfernstieg zum ersten Mal französische Seidenblumen gesehen hat. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie in den 1970er-Jahren in Westberlin ihre eigene, kleine Manufaktur gegründet. Sie war die Kreative, er fürs Geschäftliche zuständig. Weil das, was unter ihren Händen entstand, schon immer etwas ganz Besonderes war, hat der Name Steyer in der Fachwelt einen großartigen Klang. So etwas Feines und Einzigartiges gibt es eben nicht aus Fernost. Hutmacher und Designer in ganz Europa wissen das. Die Modeberaterin der englischen Königin kommt persönlich, wenn Steyers einmal im Jahr in einem Londoner Hotel ihre neueste Kollektion präsentieren.

Keinen Nachfolger gefunden

Aber wie wird es weitergehen mit der letzten Kunstblumen-Manufaktur in Deutschland? Heide Steyer wird nachdenklich. Es ist die Frage, die sie und ihren Mann inzwischen schon einige Jahre umtreibt. Sie sind jetzt beide Mitte 70 und zum Glück noch aktiv und gesund genug, um weiter an ihrem Lebenswerk zu arbeiten. Aber bis jetzt haben sie noch niemanden gefunden, der es einmal weiterführen könnte. Oder ist es wirklich eine alte Tradition, die niemand mehr braucht und die mit den Steyers auch in Deutschland aussterben wird? So wie sie schon in anderen Ländern Europas ausgestorben ist? „Ich weiß nicht, ob ich vielleicht doch zu altmodisch bin“, sagt die 74-Jährige. „Und ob ich überhaupt noch mal jemanden mit meiner Begeisterung anstecken kann.“

Auch die Banken winken ab. „Sie sagen, wir sind unattraktiv, weil wir mit diesem Geschäft keine großen Gewinne machen können“, sagt Heide Steyer. „Und dass unser Kapital in Wirklichkeit kein Kapital ist.“ Aber ist das denn kein Kapital, was sich da fein nummeriert und tausendfach in den Regalen findet? All die Stanz- und Prägestempel für Tausende Blätter und Blütenformen. Ist das etwa kein kostbarer Schatz? Und all das Wissen über ihr Handwerk? Heide Steyer hat es aufgeschrieben und könnte es weitergeben. Der Beruf des Kunstblumenmachers wird ja nicht mehr gelehrt. Wird er eines Tages auch nicht mehr gebraucht?

Es sind solche Fragen, die Heide und Gerald Steyer mit sich herumtragen. Auch wenn sie jetzt nach Paris fahren. Sie werden wie immer, mit neuen Aufträgen zurückkommen. Da können sie sicher sein. Sie werden mit Menschen zusammentreffen, die den Wert ihrer Arbeit schätzen. Wird sie vielleicht auch jemand darunter sein, der sich vorstellen könnte, die Manufaktur zu übernehmen? Heide und Gerald Steyer würden sich das sehr wünschen. Oder vielleicht eine andere Möglichkeit, ihren Schatz und ihr Lebenswerk zu bewahren.

Jetzt aber los, sagt Heide Steyer, und widmet sich wieder den blauen Kartons. In den hier kommen die Margeriten, in den anderen die kleinen Veilchen, die Tausendschönchen und die Vergissmeinnicht. Für Sentimentalitäten ist jetzt gerade keine Zeit. Und wie sie da so an ihrem Arbeitstisch steht, in Jeans und T-Shirt, mit ihrem unkomplizierten Kurzhaarschnitt, so voller Energie und Elan, wie sie die Blüten zu Sträußchen bindet, wie sie sie behutsam wie einen Schatz in die Kartons legt, dann man sich nicht vorstellen, dass diese Kunst eines Tages womöglich aussterben könnte.