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Tharandter Raum-Tagebuch macht Kriegsende neu sichtbar

Anke Binnewerg und Carola Ilian sammeln Erinnerungen von 1945 – und verknüpfen sie zu einem Online-Tagebuch mit Fotos und Karten.

Von Dorit Oehme
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Die freiberuflichen Denkmalpflegerinnen Anke Binnewerg und Carola Ilian in Kurort Hartha.
Die freiberuflichen Denkmalpflegerinnen Anke Binnewerg und Carola Ilian in Kurort Hartha. © Karl-Ludwig Oberthür

Pferde grasen auf der Wiese vorm Haus. Alles sieht aus wie ein Heerlager. Drinnen in der Küche zählt der elfjährige Gerhard Steinecke 25 Sowjetsoldaten und einen sowjetischen Offizier. Es ist der Abend des 8. Mai 1945 in Kurort Hartha. Nach 23 Uhr fallen Schüsse, die den Elfjährigen an ein Gefecht denken lassen. Doch es sind Salutschüsse. Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Wehrmacht hat in Berlin die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Die alliierten Mächte sind als Sieger hervorgegangen.

Erinnerungen wie diese von Gerhard Steinecke, der bis 2013 lebte, suchen Anke Binnewerg (Jahrgang 1977) aus Kurort Hartha und Carola Ilian (Jg. 1976) aus Dresden. Die Denkmalpflegerinnen und Künstlerinnen haben den Rahmen für ein Mitmach-Raum-Tagebuch zum Kriegsende im Tharandter Wald geschaffen – und wollen nun Anwohner und Interessierte gewinnen. Die ersten Seniorenstammtische und -kreise haben sie in den Orten ringsum schon besucht. „In Tharandt beteiligen sich schon einige über 85-Jährige, die ihre Erinnerungen weitergeben. Sogar bundesweit haben wir Unterstützer.“

Gefördert von zwei Stipendien der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen haben Anke Binnewerg und Carola Ilian Ende 2020 bereits eine Raum-Chronik erarbeitet. Dazu werteten sie Erinnerungsberichte und Material aus, das André Kaiser, der Ortsvorsteher und Ortschronist von Kurort Hartha, gesammelt hatte; er begleitet auch das jetzige Projekt. Sie recherchierten Hintergründe und Fakten, betrachteten historische Luftbilder und Lageskizzen. Gemeinsam suchten sie Schauplätze auf, dokumentieren die Orte per GPS-Gerät und speisen die Informationen in eine Geo-Datenbank ein. So erstellten sie Karten, auf denen die Ereignisse räumlich vorstellbar werden.

Auf dem Weg nach Theresienstadt

„In den letzten Kriegswochen verdichteten sich lokal- bis weltgeschichtlich relevante Ereignisse extrem. Kampfhandlungen, Nazi-Verbrechen, die kriegsbedingte Verlagerung von Institutionen, Fluchtbewegungen, Todesmärsche, Zwangsarbeit, Zerstörungen und Plünderungen hatten enge Bezüge zu den Straßen und Wegen, den Plätzen, dem Tharandter Wald und vor allem zu den Einwohnerinnen und Einwohnern – alles fand sprichwörtlich vor ihrer eigenen Haustür statt“, sagt Anke Binnewerg und offenbart: In der Nähe ihres Hauses habe vermutlich ein Todesmarsch entlanggeführt. Belegt sei, dass er am 20. April 1945 von Fördergersdorf kam und in einer Feldscheune oberhalb des Buchenweges für einige Stunden „Station machte“.

Es waren größtenteils jüdische französische Häftlinge aus dem Außenlager Neu-Staßfurt, das zum Konzentrationslager Buchenwald gehörte. Die rund 700 Gefangenen wurden etwa 375 km durch Sachsen-Anhalt und Sachsen getrieben, ehe sie am 8. Mai von sowjetischen Truppen in Annaberg-Buchholz befreit wurden. Auf dem Friedhof Tharandt sind vier Franzosen der mindestens 221 Opfer beigesetzt, die auf der langen Tortur starben oder entkräftet liegen blieben und dann von der SS erschossen wurden. Ebenso drei Frauen eines zweiten Todesmarsches mit Französinnen und Ungarinnen. Ihr Tross kam von Markkleeberg bei Leipzig, aus einem der vielen anderen Außenlager, die zum KZ Buchenwald gehörten, und war nach Theresienstadt unterwegs.

Die Bilder von jenem 21. April 1945, an dem die ausgemergelten Frauen vor seinem Elternhaus durch Tharandt getrieben wurden, hat Professor Otto Wienhaus nicht vergessen können. „Auch mit ihm sind wir im Kontakt“, sagt Anke Binnewerg. Seit mehreren Jahren engagiert sie sich für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Drei Jahre hat sie auch in der Gedenkstätte Buchenwald gearbeitet. Über ihre Firma „Zeitformen“ erforscht sie historische Großräume. Carola Ilian arbeitet mit ihr öfters zusammen, auch in der interdisziplinären Gruppe „pink tank“ – die sich mit gesellschaftspolitischen Themen befasst.

Spuren finden sich bis heute

„Das Raum-Tagebuch macht die individuellen Kriegserlebnisse räumlich nachvollziehbar Die Spuren finden sich bis heute an den Orten und auch in den Biografien der Menschen“, betont Carola Ilian. Beim Erzählen mit den Zeitzeugen oder der nächsten Generation sei der Ukraine-Krieg oft ein Thema. „Er weckt alte Erinnerungen – bis hin zu Traumata.“

Auch Rätselhaftes wird thematisiert. Wie das Grab der sechs Hitlerjungen, die zum Volkssturm gehörten und gegen Kriegsende im Tharandter Wald umkamen. „Die Sechzehnjährigen stammten aus Dresden und Liegau-Augustusburg und hatten vermutlich die Flakstelle an der Ecke Freiberger Straße/ Ecke Dorfhainer Straße bewacht. Bis heute ist unklar, wie sie in die Gefechte gerieten. Doch ihr Grab zeigt bis heute die Sinnlosigkeit des Krieges.“

Für die Auswertung der Erinnerungen werden auch Mitstreiter gesucht. Für den Herbst sind Erzählcafés geplant. Das Raum-Tagebuch soll im Frühjahr 2023 im Internet veröffentlicht werden. Wer persönliche Erinnerungen beiträgt, bestimmt selbst, welche im Raum-Tagebuch erscheinen sollen. Auch anonyme Einträge sind möglich. Es soll vielfältig gestaltet werden: mit Texten, O-Tönen, Fotos und Karten.

Gefördert wird das Projekt vom Fond Soziokultur aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie durch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten aus Steuermitteln auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes.

  • Einladungen zum Mitmachen liegen ab sofort in den Kommunen aus. Kontakt per E-Mail: [email protected]; Postanschrift: Projekt " Mitmach-Raum-Tagebuch Tharandter Wald“, Anke Binnewerg, Talmühlenstr. 52 a, 01737 Kurort Hartha
  • Mehr auf dem Blog von https://zeitformen.com