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Thomas Wagner und die schrägen Typen

Um sein Lebenswerk zu retten, ließ sich der Unister-Gründer auf halbseidene Geschäftemacher ein und wurde nach Strich und Faden betrogen. Eine Rekonstruktion.

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© Martin Jehnichen/laif

Von Ulrich Wolf

Auch sein letztes Wort half ihm nicht wirklich weiter. „Ich habe noch nie jemanden betrogen. Ich bin da so hineingeschlittert, wollte nur helfen. Mir tut es unheimlich leid, was da passiert ist“, sagt Wilfried Schwätter. Und dennoch hat das Landgericht Leipzig den alten Mann, der im November 70 wird, zu drei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Wegen schweren Betrugs, unter anderem am Gründer und Chef des Leipziger Internetunternehmens Unister, Thomas Wagner.

Der Prozess gegen Kreditvermittler Wilfried S. fand am Landgericht Leipzig statt. Dem 69-Jährigen aus Unna wird vorgeworfen, den Deal mit einem angeblichen israelischen Diamantenhändler eingefädelt zu haben.
Der Prozess gegen Kreditvermittler Wilfried S. fand am Landgericht Leipzig statt. Dem 69-Jährigen aus Unna wird vorgeworfen, den Deal mit einem angeblichen israelischen Diamantenhändler eingefädelt zu haben. © dpa
Absturz: Die gecharterte Piper zerschellt in einem schwer zugänglichen Waldstück in Slowenien, alle Insassen kommen ums Leben.
Absturz: Die gecharterte Piper zerschellt in einem schwer zugänglichen Waldstück in Slowenien, alle Insassen kommen ums Leben. © dpa
Abschied: In der Leipziger Kongresshalle gedenken Mitarbeiter des Unister-Gründers Thomas Wagner (l.) und Mitgesellschafters Oliver Schilling.
Abschied: In der Leipziger Kongresshalle gedenken Mitarbeiter des Unister-Gründers Thomas Wagner (l.) und Mitgesellschafters Oliver Schilling. © dpa
Referenz: Auch Unister-Geschäftspartner Google und andere Firmen haben zur Trauerfeier Kränze geschickt.
Referenz: Auch Unister-Geschäftspartner Google und andere Firmen haben zur Trauerfeier Kränze geschickt. © dpa

Der Richterspruch kam nicht wirklich überraschend, zu erdrückend waren die Beweise. Spannend war der Prozess dennoch. Er öffnete die Tür in die sonst so verborgene Welt der halbseidenen Geschäftemacher. Schon die Zeugen, 21 waren es, darunter überaus schillernde Personen: etwa ein Finanzmanager aus Hamburg, der bislang nicht viele seiner Kunden glücklich gemacht hat; ein Ex-Notar aus Hannover, der mit gefälschten Unterlagen aus der größten Kasernenruine Brandenburgs ein Wohngebiet machen wollte, der ehemalige hessische Landeschef der Schill-Partei, der nunmehr als Unternehmensberater in Genf und Dubai agiert, und ein Gastwirt aus dem Sauerland, der sein Glück in Thailand versuchte, dort aber Reisegruppen verärgerte. Ein pensionierter Volksbanker aus Westfalen und ein griechischer Vermögensverwalter aus dem Westerwald erschienen erst gar nicht, sie meldeten sich krank. Und bei einem deutschen Juwelenlieferanten mit Wohnsitz in Zürich musste der Staatsanwalt einräumen: „Ich habe keine Chance, an ihn heranzukommen.“ Der vorgesehene Zeuge soll in Tansania abgetaucht sein.

Mittenhinein in diese Schräge-Typen-Welt ist ausgerechnet Unister-Gründer Thomas Wagner geraten. Leipzigs Vorzeige-Unternehmer, ein Internet-Star, der mit Marken wie ab-in-den-urlaub.de oder fluege.de etablierten Reisekonzernen das Fürchten lehrte. Der Chef von einst knapp 2 000 Mitarbeitern, beneidet von vielen um seinen Erfolg, seine Melange aus Logik und Kreativität, seine technologischen Ideen. Wie war das möglich?

Es ist Ende 2015, Konstantin Korosides ist nicht mehr Pressesprecher des Unister-Konzerns. Er hatte das Unternehmen im Sommer verlassen. Vor Gericht sagt er, seine „enge Freundschaft mit Thomas“ sei geblieben. Korosides wusste, dass der erst 38-jährige Wagner zu dieser Zeit um sein Lebenswerk kämpfte. Seit 2012 machte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden dem Konzernchef die Hölle heiß, es gab Durchsuchungen. Die Ermittler wittern Betrug und Steuerhinterziehung im Hause Unister, sie klagen Wagner und andere Manager an. Im Konzern tobt zudem ein heftiger Streit mit dem ehemaligen Finanzchef. „Ein Kampf bis aufs Messer“, sagt Korosides. Unister ist hoch verschuldet, die Banken gehen in Deckung. Doch Wagner gibt nicht auf. Er will die Reisesparte an die Börse bringen, eine Billighotelkette aufbauen. Dafür braucht er Geld. Viel Geld. „Von 50 Millionen ist die Rede“, sagt Korosides.

Der gut vernetzte Kommunikationsmann streckt seine Fühler aus. Auch beim ehemaligen Landtagsabgeordneten Volker Külow von den Linken klopft er an. Ob er nicht jemanden kenne, der helfen könne? Külow kann: Der Politiker vermittelt einen Kontakt zum Leipziger Häuserkönig Oliver Bechstedt. Der zeigt sich interessiert, trifft Wagner Anfang Februar 2016 in einem Leipziger Weinrestaurant. „Herr Wagner machte keineswegs einen verzweifelten Eindruck auf mich. Es ging um Expansion, um Kontakte zu Investoren“, sagt der Immobilienmanager vor Gericht. Bechstedt legt los. Er hinterlegt Wagners Wünsche bei einer Fondsgesellschaft in Peking, beim Diners-Club-Chef in Zürich, bei einem Mittelsmann von ProSieben und bei einem Ex-Manager der Deutschen Kreditbank in Leipzig, einem Mann namens Karsten Keune, der wieder zurück in seine niedersächsische Heimat gezogen ist. „Mit ihm bin ich seit Jahren befreundet“, sagt Bechstedt. Jener Keune ist es dann, der zu einem wichtigen Glied in der Kette der Ereignisse wird, die mit dem Tod Wagners wenige Monate später enden.

Zwei, drei Wochen nach dem Treffen im Weinrestaurant streckt der Unister-Gründer seine Fühler zu Keune aus. Via Mail schreibt er ihm: „Oliver Bechstedt war so freundlich, mir Ihre Kontaktdaten zu vermitteln.“ Der Ex-Banker wittert ein Geschäft,

Anfang März meldet er Vollzug. Er habe von Wagner das Mandat zur Investorenvermittlung erhalten, schreibt er seinem Kompagnon Bechstedt. Zwei Prozent der Investitionssumme blieben ihm als Provision. Er sei mit vier Investorengruppen im Gespräch, einer davon sei ein seriöser Geschäftsmann aus Israel. Der biete einen Kredit von 15 bis 20 Millionen Euro an, verzinst mit 4,1 Prozent. Als Sicherheit reiche eine Bar-Anzahlung von zehn Prozent des Darlehens.

Im März verlassen mehrere Unister-Manager das Unternehmen, Personal wird abgebaut. Mitte April soll der Computerbetrug gegen Wagner & Co. verhandelt werden. Doch weil sich Staatsanwaltschaft und Landgericht um Details der Anklage streiten, verzögert sich der Prozessauftakt. Währenddessen reist ein 68-jähriger Mann mit dem Auto aus dem westfälischen Unna in die slowenische Hauptstadt Ljubljana, um sich dort angeblich mit einem Israeli zu treffen. Das ergeben die Geokoordinaten aus seinem ausgewerteten Handy. Der Reisende ist der nun verurteilte Einzelhandelskaufmann Wilfried Schwätter, der Israeli jener Mann, der Thomas Wagner 15 bis 20 Millionen Euro Kredit in Aussicht gestellt hat.

Banker Keune und Wagner treffen sich erstmals Anfang Juni. Mit dabei sind ein Vertrauter des Konzernchefs sowie ein Leipziger Unternehmensberater. Der sagt vor Gericht, Unister und Keune hätten ihm zu verstehen gegeben, es bestehe „zwingender Kapitalbedarf“. Ob er da nicht helfen könne. „Danach habe ich eine Zeit lang nichts mehr davon gehört.“ Schwätter reist indes zwei weitere Male in Richtung Ljubljana. Wieder geht es um Geschäfte mit dem Israeli, es wird wohl auch über Unister und Thomas Wagner gesprochen. Denn der Leipziger Unternehmensberater erhält nun doch noch einen Anruf. „Heinz Beck meldete sich bei mir. Den kannte ich, den hielt ich für einen soliden Partner.“ Beck ist ein weiteres wichtiges Glied in der Unglückskette. Beck, 64 Jahre, ist ein Leasingspezialist aus dem sauerländischen Iserlohn. Er kennt seit Jahren Ex-Banker Keune, er kennt den Slowenien-Reisenden Schwätter. Am 21. Juni schickt Beck dem Leipziger Unister-Berater einen Darlehensentwurf zur Prüfung. Die Konditionen darin entsprachen exakt jenen, auf die Wagner drei Wochen später eingehen sollte. „Ich sah das kritisch. Wohl deshalb brach der Kontakt zu Wagner ab, und ich war draußen.“ Eine erste kritische Stimme zu dem verhängnisvollen Deal ist verstummt.

Es sollte nicht die einzige bleiben. Wagner bleibt mit Keune in Kontakt. Der Unister-Gründer schickt zwei Vertraute nach Hannover. Dort treffen sie den Ex-Banker in einem Fünfsternehotel am Hauptbahnhof. Außer ihm sind auch Beck und Schwätter anwesend. Die beiden Emissäre berichten vor Gericht, es habe fast nur der Mann aus Unna gesprochen. Er sei eindeutig als Vertreter des Investors aufgetreten, „angeblich ein israelischer Diamantenhändler mit Wohnsitz in Italien“. Der Kreditgeber heiße Levy Vass, habe Schwätter erzählt. Der Investor sei seriös, er arbeite schließlich seit fast zwei Jahrzehnten mit ihm zusammen. Referenzen habe Schwätter aber nicht vorweisen können, bei Fragen danach sei er „leicht aggressiv“ geworden. Dass das kein seriöses Geschäft sein könne, sei ihnen relativ schnell klar geworden, erzählen die Wagner-Vertrauten. „Als dann auch noch die Sprache kam auf Bargeld in Schweizer Franken, sind wir gegangen.“ Die Visitenkarten von Schwätter, Beck und Keune „haben wir draußen in einen Mülleimer geschmissen“. Das Treffen habe maximal eine halbe Stunde gedauert, „das war Zeitverschwendung“. Noch auf der Rückfahrt nach Leipzig informiert einer der Emissäre Unister-Chef Wagner: „Thomas, lass die Finger davon. Sehr suspekt. Ich glaube, wir haben mit der Mafia gesprochen.“

Am anderen Morgen, es ist inzwischen der 29. Juni, erhält Wagner eine Mail von Keune. Darin beteuert der Ex-Banker die Seriosität von Vass. Der Israeli sei an Spielbanken beteiligt, handle seit 17 Jahren mit Diamanten, im Internet gebe es nichts Negatives über ihn. Man halte das Kreditangebot aufrecht, der Deal könne in Mailand oder Venedig über die Bühne gehen. Als Provision würden für ihn sowie Beck und Schwätter insgesamt fünf Prozent der Kreditsumme fällig werden. An dem Tag steht in der Leipziger Unister-Zentrale ein Führungskräfte-Meeting an. Es geht um das Projekt Epsilon, den Konzernumbau. Am Rande des Treffens berichten die zwei Manager noch einmal von dem Treffen in Hannover. „Auch nach der Keune-Mail haben wir ihm absolut davon abgeraten.“ Wagner habe nur gesagt: „Mal sehen, ich lass das trotzdem von den Juristen prüfen.“

Tatsächlich schickt der 38-Jährige Anfang Juli den Kreditvertrag nach Frankfurt am Main. Dort hat die Großkanzlei CMS Hasche Sigle ihren Sitz, der Haus- und Hofanwalt von Unister. Der zuständige Jurist äußert Wagner gegenüber „einige Bedenken, vor allem bezüglich der Bargeldkomponente.“ Da könne es Probleme geben wegen der Geldwäsche-Gesetze. Nach Italien dürfen nicht mehr als 10 000 Euro bar eingeführt werden. Eine eindeutige Warnung aber meidet der Anwalt.

Ex-Konzernsprecher Korosides hat inzwischen Wind davon bekommen, dass Wagner „irgendwas Wahnsinniges“ in Italien vorhat. Er konfrontiert ihn am 3. Juli damit, „Thomas hat dazu aber nichts gesagt.“ Dessen vermeintliche Heilsbringer hingegen kommunizieren heftig, Mails fliegen hin und her. Beck schreibt Keune und Wagner: „Gestern Abend rief Vass an. Das Kreditgeschäft ist genehmigt.“ Wagner antwortet Keune: „Vielen Dank für die erfreuliche Info und noch einen schönen Sonntag.“ Dann teilt Keune Details mit: Der Deal werde nun endgültig in Venedig über die Bühne gehen, „spätestens zwischen dem 11. – 15. Juli“. Den exakten Ort bestimme der Finanzier Vass. Beck werde über Bekannte ein kleines Privatflugzeug chartern, das koste so um die 6 000 Euro. „Ich selbst habe Flugangst, komme mit dem Auto.“ Wagner mailt zurück: „Termin ist kein Problem, kann jeden Wochentag freimachen.“ Und er schreibt einem der wenigen Eingeweihten, seinem Freund und Unister-Mitgesellschafter Oliver Schilling: „Ich bin echt gespannt, ob das klappt.“

Der Fisch hat angebissen. Banker Keune informiert am 4. Juli seinen Kumpel Beck in Iserlohn, dass Wagner kommen wird. Er grenzt den Zeitraum ein auf die Tage vom 13. bis 15. Juli, das möge bitte mit Levy Vass abgestimmt werden. Beck antwortet, der Termin werde auf den 13. Juli festgelegt, da er am Freitag zum Abi-Ball seines Stiefsohns eingeladen sei. Wagner telefoniert mit Keune, erzählt ihm, dass seinerseits drei Leute mitfliegen werden und legt danach einen Aktenvermerk an. Einige seiner Stichpunkte, versehen mit einem Fragezeichen, sind: Echtheitsprüfung, Ort des Geldaustauschs, Notar, Anmeldung der Einfuhr, Provisionshöhe, Gebühren, Kontoeröffnung, Bank. Keune sichert daraufhin Wagner zu, Herr Beck werde diese Details mit Vass klären und den Kreditvertrag entsprechend ergänzen. Zollerklärungen seien nicht nötig, „um Geldprüfgeräte kümmere ich mich“.

Doch Wagner reicht das nicht. Er besteht auf einen komplett abgefassten Vertrag mit allen Details. Das macht die Hintermänner nervös. Beck setzt sich direkt mit Vass in Kontakt und fordert ihn auf, ihm ein ausgefülltes Vertragsmuster zuzusenden. Insbesondere müsse ein Konto bei einer Bank in Venedig vorbereitet werden, um die ersten 25 Prozent des Gesamtkredits einzahlen zu können. Wagner wolle das Geld keinesfalls bar mit nach Deutschland zurücknehmen. Am 5. Juli schickt Vass aus Kroatien – wohl aus einem Kopierladen in Split – einen Darlehensvertrag über 15 Millionen Euro an Schwätter. Der leitet ihn weiter an Beck. Dessen ehemalige Sekretärin sagt aus, ihr Ex-Chef habe den Vertrag „zwischen Levy Vass und Thomas Wagner“ überarbeitet und mit Anmerkungen versehen. „Dann sollte ich das alles sauber abschreiben.“ In dem Schriftstück habe Vass angegeben, er wohne im norditalienischen Varese. Ihr früherer Chef habe danach erzählt, wenn das in Venedig klappe, wolle er wieder eine Firma aufbauen. Beck sei damals „finanziell sehr eng“ gewesen.

Der Iserlohner Leasing-Experte schickt den Kreditvertrag an Wagner zur Kenntnis, teilt ihm mit, dass er und Schwätter sich an den Flugkosten beteiligen werden. Allerdings benötige er zunächst eine Kostenübernahmebestätigung von Wagner. Der hat inzwischen einen Passus im Vertrag entdeckt, der ihm sauer aufstößt. Es geht um eine nicht näher definierte notarielle Gebühr von 1,5 % der Darlehenssumme, also um 525 000 Euro. Diese sei, mailt Wagner an Beck, „nicht relevant“. Das möge bitte mit Vass geklärt werden. Beck antwortet, er erreiche Vass nicht, aber Schwätter versuche das. Dann meldet sich Keune. Man habe mit Vass gesprochen, es handle sich um eine Bankgebühr. Vass habe sich zu einem Kompromiss von 0,75 Prozent bereit erklärt. Auch Beck sagt zu, man werde mit Vass „eine konstruktive Lösung vor Ort“ finden. Wagner will das aber „vorher geklärt wissen“.

Trotz der Unstimmigkeiten beginnt der Konzernchef, die geforderte Sicherheit von zehn Prozent der Darlehenssumme, also 1,5 Millionen Euro, zu organisieren. In Form einer „streng vertraulichen Arbeitsanweisung“ beauftragt er einen Mitarbeiter aus der Unister-Finanzabteilung, das Geld in bar „in größtmöglicher Stückelung“ zu besorgen. Der Mitarbeiter zaudert, weist auf Geldwäsche-Risiken hin. Der Konzernchef kontert, das sei mit der Rechtsabteilung abgesprochen. Der Finanzangestellte kontaktiert die Commerzbank in Leipzig wegen „einer vergleichsweise unüblichen Transaktion“. Die Bank verlangt Informationen. Wagner schickt einen privaten Darlehensvertrag zwischen einer Unister-Tochterfirma und ihm als Beleg. Er wird noch einmal von Ex-Konzernsprecher Korosides angerufen. Sie telefonieren fast eine halbe Stunde. Wagner habe ihm nichts von Venedig erzählt, so Korosides. „Es klang aber wie ein Abschiedsgespräch“.

Das letzte Wochenende vor dem Trip nach Italien. Sonnabends teilt Keune Thomas Wagner mit, man werde sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens Marco Polo treffen. Das Hotel bestimme Vass kurzfristig selbst, „aus Sicherheitsgründen“. Beck mailt Vass die geplante Ankunftszeit der Piper in Venedig: 13. Juli, 14 Uhr. Und Wagner erinnert er daran, ja nicht den Personalausweis zu vergessen.

Noch zwei Tage. Montags bestätigt Wagner Beck, er habe das Geld besorgt und werde Herrn Schilling mitbringen. Erstmals erzählt er seiner Lebensgefährtin vom geplanten Flug nach Venedig. Die junge Frau gibt vor Gericht zu Protokoll, ihr Freund habe „großes Vertrauen in das Duo Keune/Beck“ gehabt. Der Iserlohner Leasing-Experte informiert Vass derweil, dass der Leipziger Ex-Banker bereits mit dem Auto losgefahren sei und einen Tag früher eintreffe. Schwätter teilt mit, man werde sich im Hotel „Antony Palace“ im Venedig-Vorort Marcon treffen.

Einen Tag vor Beginn der Reise kommen in der Unister-Zentrale einige Manager zum Jour fixe zusammen. Einigen fällt auf, dass Wagner mit einem Rucksack aufkreuzt, was „völlig ungewöhnlich“ sei. Beck bestätigt Wagner, die gecharterte Piper werde wie geplant um 7.15 Uhr in Dortmund abheben, in Leipzig zwischenlanden und ihn und Schilling gegen 9.30 Uhr an Bord nehmen. Wagner dankt und schreibt: „Bis morgen, Thomas“ Abends holt der eingeweihte Mitarbeiter aus der Unister-Finanzabteilung die 1,5 Millionen Euro bei der Commerzbank ab und übergibt das Bargeld dem Konzernboss. Der bittet darum, die Buchhaltung vorerst nicht zu informieren. „Je weniger Leute das wissen, desto besser.“ Nahezu zeitgleich mailt Beck an Schwätter, er könne nicht mitfliegen, die Maschine habe nur vier, nicht sechs Plätze. Das rettet ihm das Leben.

Mittwoch, 13. Juli. Exakt um 13.27 Uhr landet eine aus Leipzig kommende Piper auf dem Flughafen Marco Polo. Beck, Schilling, Wagner und der Pilot treffen auf Keunes Ehefrau, die das Quartett zum Hotel fährt. Dort sitzt ihr Mann bereits an der Bar. Man wartet auf Vass. Der kommt gegen 14.30 Uhr. Wagner sollte ihn später als „sympathischen, mittelalten Herrn“ beschreiben, der gebrochen Deutsch spreche. Vass zeigt seinen Ausweis. Demnach ist er italienischer, nicht israelischer Staatsbürger, geboren am 24. Oktober 1952, wohnhaft in Florenz, nicht in Varese. Der ominöse Investor verpflichtet sich, 15 Millionen Euro an Wagner zu zahlen. Die erste Tranche von 4 090 000 Schweizer Franken befände sich wie vereinbart in einem Koffer in seinem Auto. Wagner weist auf seinen Rucksack und bestätigt, dass sich darin die Sicherheitszahlung von 1,5 Millionen Euro befände. Bilder von Überwachungskameras zeigen dann, wie Wagner und Vass das Hotelrestaurant in Richtung Parkplatz verlassen. Nur wenige Minuten später kommt der Leipziger zurück, ohne Rucksack, dafür mit einem Aktenkoffer in der Hand. Ein Schein aus dem Koffer wird ihm im Hotel problemlos gewechselt.

Der verabredete Plan sieht nun vor, sich an einer Filiale der Banco Popular am Kopfbahnhof von Venedig zu treffen. Dort will Wagner das Vass-Geld auf das angeblich vorbereitete Konto zugunsten von Unister einzahlen. Videoaufnahmen zeigen, wie Wagner, Beck und Keune gegen 16 Uhr vor der Bank warten. Vass ist nicht da. Man wartet. Und wartet. Und wartet. Beck ruft Schwätter an: „Lass mich nicht hängen, Willy.“ Der Mann aus Unna schickt eine SMS an Vass: „Hallo Levy, ruf‘ den Beck an, es gibt richtig Ärger. Die Bank macht zu, die kriegen Ihren Flug nicht mehr.“ Doch Levy schweigt. Mehr als eine Stunde vergeht, dann entschließt sich das wartende Trio, mit dem Taxi zum Flughafen zurückzukehren. Auf der Fahrt dorthin will Beck plötzlich seine Provision haben: 220 000 Euro für alle beteiligten Vermittler. Wagner öffnet den Koffer und entdeckt nun: Nur die oberste Schicht der Geldscheine ist echt. Der geschockte Unternehmer telefoniert sofort mit seiner Lebensgefährtin: „Oliver und ich wurden betrogen, wir gehen zur Polizei.“

Kurz vor 18 Uhr ist man am Flughafen. Beck schickt noch einmal eine Nachricht nach Unna: „Hallo Herr Schwätter, Vass hat gefälschte Scheine mitgebracht. Rückflug erst am nächsten Tag.“ Wagner erstattet derweil eine Betrugsanzeige bei der dortigen Polizei. Ein Dolmetscher wird geholt. All das dauert, der für den Abend geplante Rückflug wird auf den nächsten Tag verschoben. Die italienische Polizei beschlagnahmt vier Millionen Schweizer Franken mit der Aufschrift „Faksimile“. Um 21.30 Uhr werden Wagner lediglich die 20 echten Banknoten zu je 1000 Franken ausgehändigt. Gegen 23 Uhr telefoniert er noch einmal mit seiner Lebensgefährtin in Leipzig.

Der nächste Morgen, kaum einer hat geschlafen. Bereits um 6.23 Uhr schreibt Keune an Beck: „Wenn der Schwätter Vass 17 Jahre kennt, dann stecken die unter einer Decke.“ Vor Gericht sagt Schwätter, Beck habe ihn an jenem Morgen um kurz nach neun Uhr angerufen und dann an Wagner weitergegeben. Der habe aber in dem Telefonat mit keinem Wort das Falschgeld erwähnt. Stattdessen habe der ihn gefragt, ob er, Schwätter, die Möglichkeit habe, am Wochenende nach Dresden oder Leipzig zu kommen. „Da aber mein Auto kaputt war, habe ich das verneint und gefragt, ob Herr Wagner nicht zu mir kommen kann.“ Wagner habe darauf geantwortet: „Alles klar, das mache ich.“ Ein letztes Videobild aus Venedig zeigt Wagner, Beck, Schilling und den Piloten vor dem Abflug der Piper auf dem Vorfeld des Flughafens. Einige Minuten nach zehn hebt die Maschine ab.

Sie fliegt zunächst an der Adriaküste entlang. Gegen elf Uhr meldet der Pilot der slowenischen Luftüberwachung, er habe Probleme mit Vereisung. Es ist sein letzter Funkspruch. Kurz darauf verschwindet die Piper vom Radar. Sie stürzt in ein schwer zugängliches Waldgebiet im Westen Sloweniens, zerschellt, brennt aus. Alle vier Insassen kommen ums Leben. Obwohl das Höhenruder des Flugzeugs erst drei Wochen später Hunderte Meter entfernt vom Wrack gefunden wird, schließen die Ermittler bislang eine Manipulation an der Maschine aus. Allerdings werden am heil gebliebenen Kreditvertrag neben Wagners auch DNA und Fingerabdrücke von Levy Vass festgestellt. Italienische Kriminalisten ordnen die einer bestimmten Person zu, doch weder Keune noch Schwätter können diese auf vorgelegten Lichtbildern als Levy Vass identifizieren.

Bereits einen Tag nach dem Absturz hatte das sächsische Landeskriminalamt den Verbindungsbeamten des BKA in Rom kontaktiert. Der ließ sofort alle greifbaren Beweise sichern: die Strafanzeige Wagners bei der Flughafenpolizei, Kommunikationsdaten, Videoaufnahmen. Rasch stießen die Ermittler auf die Anschrift Schwätters. Sie informierten die Polizei in Unna, die checkten die Adresse. Am 21. Juli tanzt Keune zu einer Beschuldigten-Vernehmung beim LKA in Dresden an, Schwätter wird telefonisch überwacht. Er spricht weiter mit Vass. „Brauchst keine Panik haben“, sagt er. „Ich kümmere mich drum.“

Am frühen Morgen des 28. Juli schlagen die Ermittler in Unna zu. Sie durchsuchen die Eigentumswohnung von Schwätters Ehefrau. Fünf Stunden lang. Der 69-Jährige, der ohne Vorstrafen ist, wird festgenommen, einem Richter vorgeführt und noch am gleichen Tag in die JVA Dresden gebracht. 14 Tage später wird auch Becks Wohnung in Iserlohn durchsucht. Besonderes Interesse der Ermittler erwecken drei Aktenordner, in denen der Name Levy Vass auftaucht. Dabei geht es um Diamanten-, Währungs- und Autogeschäfte – und um den Unister-Deal.

Am 28. März 2017 wird Wilfried Schwätter zu fast vier Jahren Haft verurteilt – und legt im April Berufung ein. Gegen den Banker Keune wird noch ermittelt, Beck ist tot. Nach dem Absturz Wagners ist auch Unister implodiert, musste Insolvenz anmelden. Die Reise-sparte des Konzerns gehört mittlerweile einer tschechischen Investmentfirma und heißt nun Invia. Und Levy Vass? Zwar wird nach ihm international gefahndet, doch 1,5 Millionen Euro reichen, um zumindest eine geraume Zeit lang abzutauchen.