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Tod im Karauschenholz

Vor 20 Jahren wurden Oberlandeskirchenrat Roland Adolph und seine Frau Petra in einem Wald bei Moritzburg erschossen. Ihr Sohn Konrad denkt daran auf ganz eigene Weise, und noch immer ranken sich Rätsel um den Doppelmord.

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© Thomas Schade

Von Thomas Schade

Es gibt Tatorte, die werden zu Orten der Erinnerung. Einer der jüngsten entstand erst vor einem Jahr an einem Feldweg bei Robschütz im Meißner Triebischtal. Eine rostige eiserne Stehle. Zu ihr kommen Menschen, die Anneli-Marie Riße nahestanden, der Unternehmertochter, die auf dem Feldweg entführt und später getötet wurde. Auch im Karauschenholz bei Moritzburg ist so ein Ort. Schon etwas verwittert steht dort ein großer Findling aus dem Wald bei Moritzburg. In den Stein sind die Namen zweier Menschen gemeißelt. Beide fielen an diesem Sonntag vor 20 Jahren einem Verbrechen zum Opfer: Oberlandeskirchenrat Roland Adolph und seine Frau Petra.

Roland Adolph galt als vielseitig interessierter und aufstrebender Mann in der sächsischen Landeskirche – bis zu seiner Ermordung.
Roland Adolph galt als vielseitig interessierter und aufstrebender Mann in der sächsischen Landeskirche – bis zu seiner Ermordung. © Carla Arnold

An jenem Morgen, es war der 5. Februar 1997, hatte sich Konrad, der Sohn des Ehepaares, kurz vor acht wie immer von seiner Mutter verabschiedet. Er fuhr mit der Schmalspurbahn von Moritzburg durch den Lößnitzgrund nach Radebeul zum Gymnasium. Ellen, die Tochter der Familie, studierte in Ingolstadt. Für den 18-jährigen Konrad waren es die Monate vor dem Abitur. Nach der Schule wunderte er sich, dass seine Mutter nicht zu Hause war. Am späten Nachmittag klingelte die Polizei und sagte ihm, was seinen Eltern widerfahren war. Die erste Nacht nach dem Tod von Vater und Mutter verbrachte er bei einem Schulfreund, die Wochen danach bei Freunden der Familie. Am übernächsten Tag sei er wieder zur Schule gegangen, und das Abi habe er durchgezogen. Eine Reisetasche war in dieser Zeit sein Begleiter.

Konrad Adolph ist nicht der stattliche, barocke Mann, der sein Vater war. Er ist ein schlanker drahtiger Typ, dessen schwarzer Schopf schon grau durchsetzt ist. Konrad reitet nicht, jagt nicht und trägt auch keine Waffe. Alles Dinge, die seinen Vater zu einem etwas außergewöhnlichen Mann der Kirche gemacht hatten. Dennoch ist der Sohn in die Fußstapfen des Vaters getreten.

Vor dem 5. Februar 1997 habe er keinen Gedanken an eine kirchliche Laufbahn verwendet, sagt er. „Meine Schwester und ich wurden christlich erzogen, konnten uns aber immer in geistiger Freiheit bewegen.“ Erst nach dem Tod der Eltern habe er sich für das Ornat der Kirche entschieden. „Der Glaube war in dieser schweren Zeit das, woran ich mich festhalten konnte“, sagt Konrad Adolph. Das habe seine Entscheidung maßgeblich beeinflusst.

Vom Vater hatte er mit auf seinen Weg bekommen, dass Glaube nicht vor Schicksalsschlägen bewahrt und keine Lebensversicherung ist. „Der Glaube trägt einen durch das Leben“, habe der Vater gesagt, „er erleichtert es und hilft, mit Brüchen umzugehen.“ Da habe er recht gehabt.

Seit Jahresbeginn betreut Konrad Adolph die Gemeinde der Marienkirche in Großenhain. Es ist nicht seine erste Pfarrerstellen und werde sicher auch nicht seine letzte sein, glaubt der 38-Jährige. Natürlich weiß die Gemeinde, wer da zu ihnen gekommen ist. Aber das spielte keine Rolle.

Der 5. Februar vor 20 Jahren war ein Mittwoch, ein nasskalter Wintertag. Roland Adolph bummelte seinen Resturlaub aus dem vergangenen Jahr ab, seine Frau hatte sich für ein paar Tage aus der Moritzburger Diakonie-Buchhandlung verabschiedet. Zwischen 12 und 13 Uhr machte sich das Ehepaar auf den Weg in ihr Jagdrevier im Karauschenholz, um Wild zu füttern. Was ihnen im Wald widerfuhr, ist bis heute nicht restlos geklärt. Viele Indizien deuten darauf hin, dass Adolphs in ihrem Jagdrevier Schüsse hörten. Roland Adolph trug als passionierter Jäger eine Pistole unter seiner dicken Winterjacke. Offenbar wollte der 50-Jährige den Dingen auf den Grund gehen und wissen, wer da in seinem Revier zugange war.

Kurz nach 13 Uhr fuhr ein Ehepaar auf dem Landwirtschaftsweg von der Ortschaft Neuer Anbau nach Steinbach und sah plötzlich zwei leblose Menschen vor dem Trabi liegen. Es waren Roland und Petra Adolph. Neben den Leichen lag der Hund des Kirchenmannes. Alle waren mit mehreren Pistolenschüssen getötet worden.

Der Doppelmord löste Bestürzung und Spekulationen aus. Das Ehepaar war weit über die Grenzen von Moritzburg bekannt. Roland Adolph stammte aus Weesenstein, wo seine Eltern seit Generationen einen kleinen feinmechanischen Betrieb führten. Er verweigerte den Dienst in der NVA und absolvierte bei Robotron eine Feinmechanikerausbildung. Der Burkhardswalder Pfarrer Lothar Berthold führte ihn zur Theologie. 1977 trat Adolph seinen Dienst in der sächsischen Landeskirche an und durchwanderte verschiedene Pfarreien, leitete das Diakonenhaus in Moritzburg und war 1994 im Landeskirchenamt angekommen – zuständig für die Verbindungen zwischen Kirche und Staat. Er stieg auf bis in die Synode der evangelischen Kirche Deutschlands.

Spätestens seit 1981 war Roland Adolph im Radar der Staatssicherheit. Im operativen Vorgang „Synodaler“ wird er als „feindlich eingestellter Pfarrer“ beurteilt – mit umfangreichen West-Verbindungen. Zusammen mit dem Kirchenjuristen Steffen Heitmann begann er 1989 als Vertreter der Kirche auf der Bautzener Straße in Dresden das MfS abzuwickeln. In der Arbeitsgruppe Quellenschutz bekam er Zugang zu den brisantesten Informationen des DDR-Geheimdienstes. Es blieb sein Geheimnis, warum er diese Arbeit schon nach wenigen Wochen wieder niederlegte.

Diese Tätigkeit nährte nach dem Mord Gerüchte von einer späten Rache der Stasi. Konkrete Hinweise darauf fand die Dresdner Mordkommission nicht. Sie ging schon wenige Tage nach Schüssen im Karauschenholz von einem tragischen Zufall aus. Polizisten hatten am Tatort zahlreiche Patronenhülsen und Projektile gefunden. Allein auf den Wegweiser nach Weinböhla war dreimal geschossen worden. Das Ehepaar war offenbar in eine illegale Schießerei geraten und musste sterben, weil der oder die Schützen fürchteten, dass Roland Adolph sie anzeigt. Der energische Kirchenmann hätte eine illegale Schießerei in seinem Revier nicht geduldet, sagten später Menschen, die ihn kannten.

Lange vertrat die Sonderkommission Adolph der Dresdner Polizei die Hypothese, dass mehrere Schützen am Tatort waren. Den Spuren zufolge wurde in verschiedene Richtungen und auf mehrere Ziele gefeuert. Bald wussten die Ermittler, dass mit zwei Pistolen geschossen worden war, die einem Anwalt gehörten. Das hatte die ballistische Auswertung der Projektile und Hülsen ergeben. Ein Unbekannter hatte die Pistolen sieben Wochen vor dem Doppelmord aus der Anwaltskanzlei gestohlen.

Die Ermittler standen unter hohem Druck. Das Innenministerium verlangte eine schnelle Klärung. Roland Adolph war das prominenteste Mordopfer seit 1990. Für die entscheidenden Hinweise zur Ergreifung der Täter wurden 100 000 D-Mark ausgeschrieben, die doppelte Summe, die seinerzeit bei der Suche nach den RAF-Mitgliedern angeboten wurde. Das machte Ganoven äußerst gesprächig. Die Soko ging einigen auf den Leim, nahm Verdächtige fest, die mit der Sache nichts zu tun hatten.

Von einem dieser Ganoven ist bis heute unklar, ob er mit dem Tod des Ehepaares Adolph zu tun hatte. Der Mann aus dem Rheinland stand Mitte der 1990er-Jahre an der Spitze eines der größten Drogenringe Dresdens und war als notorischer Waffennarr polizeibekannt. Am 20. Januar 1997, wenige Tage vor dem Doppelmord, war der Mann in Bautzen wegen einer illegalen Schießerei zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden. Was hätte der als gewalttätig bekannte Mann getan, wenn er zwei Wochen nach dieser Verurteilung wieder bei einer illegalen Schießerei, diesmal im Karauschenholz, von Adolphs erwischt worden wäre?

Doch die Mordkommission hatte ihre Not mit dem Mann. Er kam nicht zur Befragung. Das Landeskriminalamt ermittelte gegen ihn. Kompetenzgerangel drohte. Im Juli 1998 wurde der Rheinländer verhaftet und legte nach einem Deal mit der Dresdner Staatsanwaltschaft alsbald eine „Lebensbeichte“ ab. Er verpfiff Komplizen und wurde Kronzeuge in Dutzenden Rauschgiftverfahren. Einige seiner Ex-Kumpane lieferten nun ihrerseits Indizien, die ihren einstigen Boss im Mordfall Adolph belasteten. Es kam jedoch nie zu einer Anklage.

Drei Jahre nach dem Doppelmord, im Frühjahr 2000, half eine Zigarettenkippe den Ermittlern weiter. Polizisten hatten diese Spur Nummer 24 am Tatort, fast 40 Meter entfernt von den Leichen, an einem Baum gefunden. Kriminaltechniker wiesen daran eine DNA-Spur nach. So gab es einen genetischen Fingerabdruck des Mannes, der die Zigarette geraucht hatte. Er lag als offene Spur in der zentralen DNA-Datenbank. Im Juli 1999 musste ein damals 33-jähriger Mann aus Dresden im Waldheimer Gefängnis eine Speichelprobe abgeben. „Manne“, wie er gerufen wurde, galt als kleiner Einbrecher, hatte aber schon einiges auf dem Kerbholz. Angeblich wegen eines Raubes im Jahr 1991 sollte er als bekannter Straftäter in die DNA-Datenbank aufgenommen werden. Warum die Polizisten ausgerechnet im Juli 1999 zu „Manne“ nach Waldheim kamen – nur wenige Wochen, nachdem der Rheinländer als Raucher der Kippe ausgeschlossen worden war, das bleibt ein Geheimnis dieses Falles.

Nach „Mannes“ Speichelprobe kam es zu dem langersehnten Treffer in der DNA-Datenbank. Er hatte die Zigarette im Karauschenholz zu 99,999 im Mund. Er gestand alsbald den Einbruch in der Anwaltskanzlei und erzählte, dass er die erbeuteten Waffen am 5. Februar 1997 im Karauschenholz an andere verkaufen wollte. Doch der kleine Ganove redete sich um Kopf und Kragen, belastete immer neue Leute, die mit ihm im Wald gewesen sein sollten, auch den Rheinländer. Nach Wochen gestand „Manne“ schließlich, dass er allein im Wald war und das Ehepaar erschossen hatte, weil sie ihn anzeigen wollten. Der Einbrecher widerrief das Geständnis zwar Tage später, doch es wurde in einem spektakulären Strafprozess zum wichtigsten Argument für seine Verurteilung. Wegen Doppelmordes verbüßte „Manne“ eine lebenslange Haftstrafe in Bautzen. Mittlerweile ist er wieder auf freiem Fuß.

Er habe keinen Hass gegen den Mann, sagt Konrad Adolph. Wie viele hat auch er bis heute Zweifel, ob der kleine schmächtige Einbrecher tatsächlich auf seine Eltern geschossen hat. Jeder, der seinen Eltern an jenem Tag gegenüberstand, müsse mit dem, was er getan hat, klarkommen.

Dass sich dieser Tag zum 20. Mal jährt, möchte Konrad Adolph gar nicht besonders hervorheben. Für ihn ist es ein Datum, um nachzudenken, was in den 20 Jahren danach passiert ist. Natürlich habe er noch immer Bilder im Kopf aus dem Jahr 1997. Die Fotos vom Tatort zum Beispiel. Sie zeigen, wie die toten Eltern im Karauschenholz liegen. „Das kriegst du nicht mehr raus.“ Zudem habe dieser Tag ihn geprägt. „Die Trauer lehrt, mit dem Tod umzugehen“, sagt der Sohn, „als Pfarrer kann ich Trauerfeiern besser als Hochzeiten“.

An diesem Sonntag werde er weder das Grab seiner Eltern besuchen, noch den Erinnerungsstein im Karauschenholz. „Ich brauche diese Orte nicht, um an meine Eltern zu denken“, sagt er. „Ich habe sie hier.“ Der junge Mann tippt an seinen Kopf.

So wird Konrad Adolph an diesem Sonntag seinen Job machen und Gottesdienste halten. „Mose am brennenden Dornbusch“ sei das Thema, jene Bibelgeschichte, in der sich Gott dem Hirten Mose zu erkennen gibt, ihn vor eine große Herausforderung stellt uns sagt: Ich werde mit dir sein. Er habe das Thema nicht ausgesucht, sagt Pfarrer Adolph, „aber es beschreibt die letzten 20 Jahre, die hinter mir liegen“. Da werde er etwas länger nachdenken über seine Predigt.

Manfred Müller, Thomas Schade, Tod im Karauschenholz, Der rätselhafte Mord an Roland und Petra Adolph, 2007, SZ-Edition, 168 Seiten