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Toms Rettung

Lymphdrüsenkrebs lautete die Diagnose für den Gymnasiasten Tom Hoffmann. Doch in Leipzig kann er geheilt werden – ohne Bestrahlung und ohne Langzeitfolgen.

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© Anja Jungnickel

Von Sven Heitkamp

Der schlimme Verdacht ereilt die Eltern an einem Novemberabend in der Leipziger Universitätsklinik: Die dicke Stelle am Hals ihres 14 Jahre alten Sohnes, so sagen die Ärzte, deute auf Lymphdrüsenkrebs hin.

Die Magnetresonanztomografie (MRT) und ein neues Bildgebungsverfahren bilden die Grundlage der Behandlungsmethode.
Die Magnetresonanztomografie (MRT) und ein neues Bildgebungsverfahren bilden die Grundlage der Behandlungsmethode. © Anja Jungnickel

Heute, fast fünf Jahre und eine Chemotherapie später, sitzt Tom Hoffmann in einem Besprechungsraum der Klinik und zeigt lachend unter seinem blauen Hemd, was von der Hiobsbotschaft übrig blieb: Eine kurze, zarte Narbe links am Hals und eine kleine Hautstörung auf der Brust. Ansonsten geht es dem 19-Jährigen blendend. Tom Hoffmann studiert im zweiten Semester Geografie, geht in seiner Freizeit gern joggen und wohnt in Borsdorf bei den Eltern, die ihren Jungen damals sorgenvoll ins Krankenhaus gebracht haben.

Keine Nebenwirkungen, keine Einschränkungen. Tom ist heute ein Musterbeispiel für den Cancer Survivors Day – den Tag der Krebsüberlebenden am 3. Juni.

Zu verdanken ist die erstaunliche Gesundung Toms Optimismus – und einem Team von Ärzten an der Uniklinik, die in der Behandlung von Lymphdrüsenkrebs bei Kindern zur internationalen Spitze gehören. Seit zwei bis drei Jahren sind die Ärzte in der Lage, mehr als drei Viertel aller Kinder mit dem Befund Hodgkin-Lymphom auch ohne Strahlentherapie erfolgreich zu behandeln.

Das ist nicht nur wichtig, um den kleinen Patienten die belastende Bestrahlung zu ersparen – sondern vor allem, um gravierende Spätfolgen zu verhindern. „In der Vergangenheit bestand ein hohes Risiko, infolge der Bestrahlung nach 15 oder 20 Jahren eine lebensbedrohliche Zweiterkrankung zu erleiden“, sagt die Leitende Oberärztin Regine Kluge, die Tom Hoffmann und seine Familie betreut hat.

Denn junge Erwachsene, die als Kinder wegen Lymphdrüsenkrebs bestrahlt wurden, erlitten häufig eine zweite Krebserkrankung. Junge Männer wurden mitunter zeugungsunfähig. Auch schwere Herz- oder Lungenkrankheiten infolge der Behandlungen waren nicht selten.

Vor gut zehn Jahren begannen Spezialisten, die schädliche Bestrahlung wegzulassen, wenn die Chemotherapie gut wirkte – wie bei Tom. Die Grundlage für diesen Fortschritt bilden neue, nuklearmedizinische Bildgebungsverfahren in Kombination mit der Magnetresonanztomografie (MRT) in der berühmt-berüchtigten Röhre. Mit der neuen Untersuchungsmethode können die Ausbreitung und das Verhalten des Tumors viel genauer bestimmt und der Tumor gezielter bekämpft werden als früher.

„Mit der sogenannten Positronen-Emissions-Tomographie, kurze PET, bestimmen wir nicht mehr einfach die Größe des Tumors, sondern dessen Stoffwechselaktivität“, sagt die stellvertretende Klinikdirektorin Kluge. Die Ärzte machen sich dabei zunutze, dass Tumore mehr Energie verbrauchen als gesunde Zellen. Sichtbar gemacht werden die Prozesse durch eine leicht radioaktive Zuckerlösung.

„Bösartige Tumore leuchten auf“, sagt Kluge. Im besten Fall zeige sich bei der Zweituntersuchung, dass die genau dosierte Chemotherapie ausgereicht hat, um die Tumorzellen abzutöten. Eine Bestrahlung ist damit nicht mehr nötig. „Das ist eine ganz besondere Chance für die Kinder“, sagt die engagierte Ärztin. Etwa 150 Kinder in Deutschland erkranken jedes Jahr am Hodgkin-Lymphom.

Toms Geschichte beginnt im August vor fünf Jahren. Es sind Sommerferien, aber der 14-Jährige leidet unter einer Erkältung. Außerdem sind da diese leicht geschwollen Lymphknoten am Hals. Also geht seine Mutter mit ihm sicherheitshalber zum Kinderarzt. Der schaut in den Hals und macht ein kleines Blutbild – stellt aber nichts weiter fest.

Doch der Gymnasiast fühlt sich auch viele Wochen später schlapp und müde, auch die Schwellung am Hals wird eher dicker als kleiner. Irgendwann reicht es den Eltern. Anfang November 2013 fahren sie mit Tom in die Kinderklinik der Universität zum Durchchecken. Er ist ihr einziger Sohn.

Das Kind wird von Kopf bis Fuß untersucht und ein großes Blutbild erstellt. Schon am Abend äußern die Ärzte ihren Krebs-Verdacht. Tom wird stationär aufgenommen, es werden zwei Wochen Krankenhauaufenthalt daraus. „Ich war fertig mit der Welt“, erzählt der junge Mann. „Und meine Eltern waren geschockt. Es war ein schlimmer Abend.“

Aber Kinderpsychologen und Ärzte nehmen sich viel Zeit für die Familie, und sie haben einen Trost: Lymphdrüsenkrebs gilt als eine der am besten zu behandelnden Krebsarten. Als eine Gewebeprobe die Vermutung der Mediziner bestätigt, schicken die Kinderonkologen Tom zu den Nuklearmedizinern im Nachbarhaus, Raum H-1060: in die Röhre. Ein rund 4,5 Millionen Euro teurer Spezialapparat, den die Ärzte „die Kamera“ nennen. Leipzigs Uniklinik verfügt über das Gerät bereits seit 2011, es war damals weltweit erst das vierte Spezialgerät dieser Art im klinischen Einsatz.

Tom bekommt seine Spritze mit der ganz leicht radioaktiven Zuckerlösung. Dann muss er eine Dreiviertelstunde still in der engen Röhre mit dem ohrenbetäubenden Geratter liegen. „Es gibt Angenehmeres“, sagt Tom lakonisch. Der Befund: Stadium 2, Befall von mehr als einer Lymphknotenregion auf der gleichen Seite des Zwerchfells. Aber Organe sind Gott sei Dank nicht betroffen.

Es hätte noch schlimmer kommen können. Dann folgen zwei Wellen einer Chemotherapie. Tom muss immer abwechselnd einige Tage im Krankenhaus am Tropf und zu Hause mit Tabletten verbringen. Seine Haare fallen aus, man legt ihm einen „Port“ zum Blutabnehmen an der Brust – jene Stelle, die bis heute zu sehen ist. „Zu Weihnachten ging es mir ziemlich mies“, erzählt er. Doch ansonsten habe er die harte Prozedur gut durchgestanden. Schließlich geht es ein zweites Mal in die Röhre zur Kontrolluntersuchung. Am 23. Januar 2014 ist der entscheidende Tag: Die Familie wird über den beruhigenden Befund informiert. Die Chemotherapie hat sehr gut angeschlagen, der Tumor ist besiegt, eine Bestrahlung nicht nötig. „Uns ist wirklich ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt Tom.

Die Behandlung des Hodgkin-Lymphoms ist längst nicht mehr nur Sache lokaler Ärzte. Die Uniklinik Leipzig ist das Zentrum eines Netzwerks von 270 Kliniken in 22 Ländern weltweit. Die Spezialisten tauschen sich über Bilder, Befunde und Behandlungen ihrer Patienten aus, um eine möglichst breite Expertise und Datengrundlage zu schaffen und jedem Kind die genau passende Behandlung zukommen zu lassen. „Die Patienten werden wohnortnah betreut – aber die Bilder und Daten reisen um die Welt“, sagt Kluge.

Die Leipziger gelten dabei als Spezialisten für Bildgebungsverfahren bei Kinder-Lymphomen. So erhielten die Nuklearmediziner jetzt von der Stiftung Mitteldeutsche Kinderkrebsforschung eine Förderung in Höhe von mehr als 150 000 Euro. Damit sollen neue Standards in der Untersuchung des Lymphdrüsenkrebses vorangetrieben werden.

Bisher werden bei den Untersuchungen sehr viele unterschiedliche Aufnahmen angefertigt. „Es ist ein großer Dschungel“, sagt Kluge. „Wir bestimmen und standardisieren nun, welche Daten optimalerweise notwendig sind, um die Zeit in der PET-MRT-Röhre für den Patienten so kurz wie möglich zu halten.“

Nuklearmediziner, Radiologen, Physiker und Dokumentationsassistenten arbeiten dafür über drei Jahre zusammen. Es ist die größte einzelne Projektförderung der Stiftung seit ihrer Gründung 2002. „Mit diesem Leuchtturmprojekt“, sagt Kuratoriumsmitglied Martin Kiunke, „können wir mit großer Breitenwirkung und sehr nachhaltig helfen, Heilungschancen zu verbessern.“

Tom Hoffmann hat nach seiner Behandlung bei einer Kur in Berlin-Wandlitz langsam wieder zu Kräften gefunden. Seine Eltern haben ihn begleitet, die Familie hat dort seinen 15. Geburtstag gefeiert. Heute muss der junge Mann nur noch zweimal im Jahr zur Kontrolluntersuchung bei einem niedergelassenen Facharzt. Spürbare Folgen hat er nicht. „Nur die Angst, dass etwas sein könnte, ist manchmal noch da“, sagt er. „Aber am wichtigsten ist, weiter positiv zu denken.“