Merken

Treppe statt Schwelle

Extremsportler Frank Wittwer trug seine Braut die Spitzhausstufen in Radebeul hinauf. Die Geschichte ihrer Liebe ist ebenso bewegt.

Teilen
Folgen
© Norbert Millauer

Von Ulrike Keller

Radebeul. Fragende Blicke. „Wo ist denn das Brautkleid?“, rufen einige Hochzeitsgäste. Und die Braut ruft zurück: „Wo ist denn der Schirmträger?“ Es ist weder Hochzeits- noch Laufwetter am Sonnabendnachmittag. Doch Frank Wittwer, der Bräutigam, löst sein Versprechen ein. „Über eine Schwelle zu Hause kann jeder seine Frau tragen“, sagt der passionierte Treppenläufer. Als Liebesbeweis und Sportlergag, den er spontan in geselliger Runde entwarf, erweitert der 47-Jährige die Tradition der Schwelle um eben mal knapp 400 Stufen. Als Sieger des diesjährigen Radebeuler Mt.-Everest-Marathons in der Kategorie „Alleingang Männer“ trägt er zur Hochzeit seine Kerstin die Spitzhaustreppe hinauf.

Für die 100 Runden brauchte der Dresdner Mitte April 15 Stunden, 24 Minuten und 29 Sekunden. In welcher Zeit meistert er nun eine knappe halbe Runde mit 58 Kilo Brautgewicht? Die illustre Runde der Mitläufer schätzt etwas zwischen zehn und 16 Minuten. Und Frank Wittwer legt los.

Die ersten Stufen trägt er seine holde Gattin auf Händen, dann huckepack. „Mir fehlen die Armmuckis“, erklärt er. „Die Konzentration lässt oben nach, und anders würde es zu gefährlich werden.“ Die Treppe auch hinunter zu laufen, kam wegen der Sicherheit gar nicht erst infrage. Zu groß wäre das Risiko des Stolperns. Hinauf steigt Trauzeuge und Lauffreund Kai Böhme aus Großenhain dicht hinter dem Paar mit, als Schirmhalter für Braut und Frisur.

„Noch mal zurück“, heißt es plötzlich von unten. „Wir haben vergessen zu stoppen.“ Nur Spaß? Selbst wenn nicht: Frank Wittwer kennt nur noch den Weg nach oben. Er ist bestens trainiert: Denn während seine Liebste am Vormittag beim Frisör saß, gönnte er sich mit Freunden einen Junggesellenabschiedslauf über schlappe siebeneinhalb Kilometer. Nach dieser netten Erwärmung ging es im schwarzen Anzug mit Zylinder ins Standesamt Dohna. Und nach dem Mittagessen im Spitzhaus hat er nun wieder den Anzug gegen die Läuferkluft getauscht und stellt sich einer neuen körperlichen Herausforderung. „Das ist keine normale Hochzeit“, bekennt er, „sondern eine Sportlerhochzeit“.

Kerstin Wittwer besteht auf eine Pause. „Ich muss ihn mir schonen“, erklärt die 45-Jährige. Ihr Gatte gehorcht und gesteht: „Man kommt doch ein bisschen aus der Puste.“ Zwei Drittel der Treppe liegen noch vor ihnen. Doch ihre Liebe hat ganz andere Anstrengungen gemeistert. Der Postangestellte und die Objektleiterin im Dienstleistungsgewerbe wurden schon in jungen Jahren ein Paar, 1987. Gemeinsam flohen sie 1989 über Ungarn in den Westen. Nach der Grenzöffnung kehrten sie in die Heimat zurück, bekamen ein gemeinsames Kind.

1993 die Trennung. Auseinandergelebt. Beide hatten andere Beziehungen, aus der jeder zwei Kinder mitbringt. Verheiratet waren sie nie. Vor zwei Jahren dann liefen sie sich wieder über den Weg. „Es hat erneut gefunkt“, erzählt Frank Wittwer.

Die Braut drängt auf eine zweite Pause. Ihr Mann soll sich seine Kräfte einteilen. Und er folgt ihrem Wunsch. Der Heiratsantrag kam übrigens von ihr. „Ich habe sofort ’Ja‘ gesagt“, verrät Frank Wittwer. Weshalb der Schritt nicht von ihm ausging? „Weil ich immer unterwegs bin“, vermutet er nach kurzem Nachdenken. Denn so gut wie jedes Wochenende nimmt er an irgendeiner Laufveranstaltung teil.

Selbst die Flitterwochen auf der Karibikinsel Curaçao verbindet er mit einem Marathon vor Ort. „Es geht nicht ohne“, sagt er. Kerstin Wittwer ist noch nicht unter die Sportler gegangen. „Es muss doch jemand am Streckenrand stehen“, so ihre Begründung. Sie begleitet ihn, so oft es geht. „Sonst sehe ich ihn gar nicht mehr.“

Das obere Ende der Treppe rückt näher. „Ab hier geht es gefühlt nur noch bergab“, motiviert ein Hochzeitsgast von hinten. „Absetzen“, bittet Kerstin Wittwer. Um seinetwillen: „Frank hätte bisher mindestens zwei Pausen weniger gemacht.“

Von oben wird bereits angefeuert, applaudiert. Überraschend taucht am Himmel ein Helicopter auf. „Das Filmteam von Eurosport hat Verspätung“, scherzt ein Lauffreund. Die frischgebackenen Eheleute erreichen das Ziel. Und tatsächlich: Das Zeitstoppen ist in der Aufregung auf der Strecke geblieben. Aber nach Frank Wittwers Gefühl waren es eher zehn als 16 Minuten. „Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt“, resümiert er. „Anstrengender.“