Von Ulrich Wolf
In achtundzwanzig Tagen beginnt die Dunkelheit. Dann darf ich nicht mehr raus. Dann muss ich hier drinbleiben, in diesem gerade mal zwei Meter breiten Verlies. Hinter mir liegen ein paar Kotflügel und Frontschürzen, Reifen, Stoßdämpfer und Motoren. Während des Winters sind sie meine einzigen Gefährten an meinem Standplatz 226 in der Sektion16 der Garagengemeinschaft TG 1 in Zwickau-Neuplanitz. Von Anfang November bis Ende März darf ich mich nicht von der Stelle bewegen, in dieser Zeit bin ich nicht zugelassen. Dabei fahre ich so gerne draußen rum. Schon wenn ich die nahe Erich-Mühsam-Straße erreiche, drehen sich die Leute nach mir um. Bin ja inzwischen wieder so etwas wie ein Kultstar geworden.
„Muggi“ heiße ich, das ist mein Kosename. Den habe ich von der Irmgard Nößler. Die arbeitete im Zwickauer Rathaus, als sie mich im Dezember 1979 im Vertriebshaus des Industrieverbands Fahrzeugbau, der Ifa, in der Zwickauer Kopernikusstraße abholte. Ihr Mann hatte mich 1970 bestellt, konnte mich aber leider nicht mehr erleben, weil er schon 1977 starb. So wurde ich zum Weggefährten für die damals 62Jahre alte Witwe Nößler. Schließlich bedeutet „Trabant“ Begleiter.
„T“ für Bezirk Karl-Marx-Stadt
Meine Kumpels und ich, wir waren für viele Bürger Weggefährten. Wir machten die DDR mobil. Ich bin ein Trabant, ein Automodell, von dem zwischen November 1957 und April 1991 in Zwickau exakt 3051385 Stück gebaut wurden. Unter diesen drei Millionen bin ich was Besonderes: Ich bin ein Trabant P 601 „de Luxe“. Mein Dach ist im Farbton „Kristallblau“ gespritzt, meine Phenoplast-Karosserie in „Perlweiß“. Das Beste an mir aber sind meine Stoßstangen. Die sind verchromt und bestehen aus drei Teilen. Einteilig konnten sie die mir damals in der Sachsenring-Fabrik in Zwickau nicht machen. Ihr Chrombad war zu klein. Jedenfalls war Irmgard stolz auf mich. Ich hatte noch eine Nebelschlussleuchte zu bieten, einen Rückscheinwerfer, ein Radio mit Kurz- und Mittelwelle, Zündentstörer und Scheiben-Wisch-Wasch-Automatik. Alles Dinge, die die meisten meiner Kumpels nicht hatten. Ich bekam das Kennzeichen TYI 3-77. Das „T“ stand für den Bezirk Karl-Marx-Stadt.
Sonntags in die Klatschschänke
Große Touren hat die Irmgard mit mir anfangs nicht gemacht. „Wir fahren mal ne Runde“, war ihr Maximum. Dann ging es mal zum Tierpark nach Hirschfeld über die F 173, meist mit ihrem Enkel Thomas. Der war damals vier und saß auf der hellbraunen Rückbank aus Kunstleder. Wie oft haben wir den von der Schule abgeholt. Ihm hat das gefallen. Er brauchte sich nicht anschnallen, ich hab ja keine Sicherheitsgurte. So hatte er genügend Platz, um die von ihm besonders geliebten Bilderbuch-Abenteuer des kleinen Maulwurfs während der Fahrt seiner Oma vors Gesicht zu halten. Das gab dann Ärger mit seiner Mutter, der Steffi Winkelmann. Das ist die Tochter von Irmgard. Die Steffi haben wir auch oft abgeholt, von der Arbeit. Sie hatte Chemie studiert und war dann in der Technischen Kontrollorganisation (TKO) des VEB Textilwerke Mülsen tätig, in der Zweigstelle in Schedewitz. Die Steffi, die hat schon damals gesagt, dass ich, der „Muggi“, zur Familie gehörte wie ein Kind. Die haben mich gehegt und gepflegt, den Unterboden mit Elaskon geschützt und mich auch regelmäßig zur Wartung gebracht.
Ich habe sie alle durch die Gegend gefahren: die Irmgard, die Steffi, ihren Mann Uve, der Schmied war, und den Thomas. Sonntags ging es zum Mittagessen mal in die „Dänkritzer Schmiede“ oder zur „Klatschschänke“ in Schlunzig. Aber so eine richtig weite Reise, an den Balaton zum Beispiel oder gar ans Schwarze Meer, haben sie mit mir nie gemacht. Ins Ausland ging es nur einmal, in die CSSR, nach Karlovy Vary.
Wenn es mal eine Urlaubsreise gab, dann hat die Irmgard sie mit Thomas allein gemacht, in den Ferien. 1983 fuhr ich die beiden mit meinen 26 PS und einer Lautstärke von 89 Dezibel in den Harz. Es ging auch mal an den Rennsteig in Thüringen, nach Kipsdorf ins Osterzgebirge oder nach Schmalzgrube bei Jöhstadt auf dem Erzgebirgskamm. Das „dedong, dedong, dedong“ über die Betonplatten der DDR-Autobahnen ging mir ganz schön an die Stoßdämpfer. Und auf den Nebenstraßen war die Irmgard auch nicht gerade die Geschickteste beim Ausweichen vor Schlaglöchern.
Arbeitslos und umgeschult
1989 feierten wir die Jugendweihe vom Thomas im „Lindenhof“ in Zwickau-Marienthal. Das war in den 1930er-Jahren mal ein ganz bekanntes Varieté. Thomas bekam eine Fahrt nach Berlin geschenkt, natürlich mit mir. Kurz darauf sind fast alle ausgeflippt. Die Mauer war gefallen. Danach fuhren viele meiner Kumpels mit ihren Leuten Richtung Westen. Ich nicht, ich blieb zu Hause. Irmgard feierte am 10. November ihren 72.Geburtstag, und ich hörte den Uve, wie er seiner Steffi sagte, man solle bloß nicht zu euphorisch werden.
Der hatte wohl eine Vorahnung. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie meine Kumpels von der Straße verschwanden. Auf einmal galten wir Trabis als hoffnungslos veraltet. Wir wurden in Einzelteile zerlegt oder landeten gleich in der Schrottpresse. Und aus meinem Geburtshaus, dem VEB Sachsenring, kamen auf einmal Autos, die hatten fast doppelt so viele PS wie ich, hießen „Polo“ und trugen ein „V“ und ein „W“ auf dem Kühlergrill und nicht mehr das geschwungene „S“, wie ich eines am Bug habe. Ausgerechnet jetzt, da die Straßen so schön wurden und sogar die Pflastersteine der A72 zwischen Zwickau und Plauen verschwanden, ausgerechnet jetzt verloren wir Trabis die Aufgabe, unsere Besitzer zu begleiten. Sie wollten uns nicht mehr.
Ich aber hatte Glück. Die Witwe Nößler und die Winkelmanns blieben mir treu, obwohl die auch genug Ärger hatten. Steffis Betrieb wurde aufgelöst, sie arbeitslos. Im August 1993 erhielt sie einen Job beim Arbeitsamt, aber auch der war nur befristet. Sie schulte zur Kauffrau für Wohnungswirtschaft um und landete eine Zeit lang bei der GGZ, dem größten Wohnungsanbieter in Zwickau. Auch ihr Mann Uve verlor den Job. Er schulte ebenfalls um, zum Gas- und Wasserinstallateur, arbeitete befristet in mehreren Firmen, war zwischendurch immer wieder arbeitslos, ehe er schließlich als Schlosser bei der Stahlbaufirma Stamec anfangen konnte.
Ein festes Gehalt war sicher. Winkelmanns kauften ein Westauto, ich kriegte die Panik. Lande ich jetzt auch in der Schrottpresse? Zu allem Überdruss wurde auch noch die Irmgard krank. Ich stand deshalb von 1995 bis 1997 nahezu unbewegt und unbeachtet auf dem Hof der Winkelmanns. Im Juni gab die Irmgard mich auf.
Sie ließ mich auf die Steffi ummelden. Die nutzte mich allerdings auch kaum. Sie sagte, sie hätte zu viel Angst, mit mir auf den Straßen zu fahren. Ich sei zu langsam (dabei bringe ich es auf 110 Stundenkilometer) und zu unsicher. Es waren öde Jahre. Die endeten erst, nachdem Thomas seinen Führerschein gemacht hatte. Ich durfte wieder fahren! Der junge Mann, der seine Kindheit und Jugend mit mir verbracht hatte, nutzte mich als Alltagsauto. Er fuhr mit mir zur Umschulung zum Einzelhandelskaufmann beim Media-Markt in Zwickau, direkt auf den Mitarbeiterparkplatz zwischen Warenannahme und Servicestelle. Elf Kilometer jeden Tag hin und elf wieder zurück. Bis Juni 1999. Das war super. Als Thomas dann zum Media-Max in Glauchau wechselte und sich ebenfalls ein Westauto zulegte, dachte ich schon, nun wär’s endgültig vorbei, sah mich wieder in der Schrottpresse. Doch Thomas ließ 58 Mark springen für mein neues Saisonkennzeichen Z – AY 986. Ich bekam sogar einen Garagenplatz.
Oma Nößler stirbt
Von den einst drei Millionen meiner Kumpels gibt es nur noch rund 40000. Thomas fährt mit mir manchmal noch zu Trabi-Treffen und zu Jubiläen wie 100 Jahre Audi oder 125 Jahre Wanderer. Selbst als Hochzeitsauto werde ich eingesetzt oder auf dem „Tag der Sachsen“. Der rot-weiße Schwan auf meiner Rückbank war das Maskottchen des Volksfestes 2000 in Zwickau. Den weiß gehäkelten Klorollenüberzieher hat Thomas als Erinnerung an seine Oma behalten, ebenso ihr braun-beige kariertes Lederkissen. Irmgard ist 2005 gestorben. Dann transportiere ich noch einen Stoffelch, weil ich mal einen Kurventest bestanden habe, bei dem andere Autos durchgefallen waren. Dieser Elch ist der Liebling von Lena. Das ist die sechsjährige Tochter von Thomas. Sie nehmen wir mal mit, wenn wir auf ein Trabi-Treffen fahren. Seine jüngste, die Paula, die gerade mal ein Jahr alt ist, hatte ihre Premiere mit mir erst im August auf einer Oldtimer-Rallye.
Die Gelenkwelle kommt
Ich bin jetzt 31 und habe 77500 unfallfreie Kilometer runter. Nur einmal war ich im Westen, 2007, als wir über Hof nach Sonneberg gefahren sind. Pro Jahr mache ich zwar nicht mehr als 500 bis 600 Kilometer, und Thomas mischt immer noch einen Liter Öl auf 50Liter Super – aber ich bin wieder wer. Weil ich, wie Thomas sagt, im Originalzustand bin. Er schätzt mich auf 4500 Euro.
Thomas fürchtet zwar, dass meine Gelenkwelle „bald kommt“, aber er und seine Eltern haben versprochen, dass sie mich nicht hergeben. „Muggi wird auf Biegen und Brechen gehalten“, haben sie gesagt. Bei dieser Perspektive halte ich auch die dunklen Monate aus. Bis Anfang April das Tor wieder aufgeht, ich auf das Orange der gegenüberliegenden Garagentore blicke und auf die kleine Eberesche. Dann schlägt Thomas das Lenkrad ein, und ab geht es, nach rechts, hinaus auf die Straße.