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Trost in größter Seelennot

Bei schlimmen Unglücks- und Todesfällen leisten Mitarbeiter vom Kriseninterventionsteam mehr als nur Beistand.

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© Steffen Unger

Von Jana Ulbrich

Manchmal fehlen auch Fabian Löpelt die Worte. Dabei ist er es, von dem alle erwarten, dass er etwas sagt. Irgendetwas. Etwas Tröstendes. Eine Erklärung. Irgendeine Antwort auf die Frage: Warum? Das ist schwer.

Fabian Löpelt aus Demitz-Thumitz bekommt einen Anruf an jenem Dienstag vor drei Wochen, an dem sich in einer Bautzener Plattenbauwohnung ein Familiendrama ereignet. Von der Rettungsleitstelle bekommt er nur knappe Informationen: Eine junge Frau ist erstochen worden, mutmaßlicher Täter ist der Ehemann, drei Kinder.

Fabian Löpelt lässt alles stehen und liegen, sagt den anstehenden Termin ab, steigt ins Auto. Drei Kinder und Angehörige brauchen jetzt seine Hilfe. Alles andere ist nicht mehr wichtig in solchen Momenten. Löpelt, studierter Sozialpädagoge und Theologe, arbeitet nebenberuflich und ehrenamtlich als Notfallseelsorger beim Kriseninterventionsteam des Landkreises Bautzen. Wenn sich im Kreisgebiet ein Unfall, ein schlimmer Todesfall, eine menschliche Tragödie ereignet, wird er gerufen.

Unterwegs im Auto lässt er sich weitere Informationen geben. „Ich muss so viel zu dem Ereignis und den Umständen wissen wie nur möglich“, sagt er. Er fährt an die Unfallstellen und die Orte des Geschehens. Er muss es mit eigenen Augen gesehen haben. Die Angehörigen haben immer viele Fragen. Er will Antworten geben können, so gut es geht. Diesmal erfährt er im Auto, dass die zweijährige Tochter alles miterlebt hat und dass die Siebenjährige es noch gar nicht weiß. Niemand hat es ihr sagen können. Er wird es ihr sagen müssen. Er wird das Mädchen in den Arm nehmen. Er wird sagen: Pass mal auf, es gibt Dinge, die sind ganz schrecklich . . . Vielleicht so.

„So eine Situation“, sagt der 36-Jährige, „die ist auch für mich immer eine absolute Ausnahmesituation. Wie erklärt man denn einem Neunjährigen, dass der Vater sich gerade in der Scheune aufgehängt hat?“ Fabian Löpelt hat das gelernt. Theoretisch. Er und die anderen 28 Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams haben eine spezielle Ausbildung in Notfallseelsorge und Krisenintervention gemacht. Aber in der Praxis, sagt Löpelt, da kommt man nicht weit mit der Theorie. Jeder Fall ist anders. Was er sagen wird, wird sich aus der Situation ergeben, daraus, wie die Betroffenen reagieren.

Er bleibt an diesem Dienstag lange bei der Familie der getöteten Mutter aus Bautzen, viel länger, als es sein Auftrag wäre. Er hinterlässt seine Telefonnummer, so wie er es immer tut nach einem Einsatz. Manche rufen noch am selben Abend zurück, manche auch nach Wochen noch.

Auf dem Weg zurück nach Hause muss er Abstand gewinnen, darf seine eigene Betroffenheit nicht zu tief an sich heranlassen. Das ist schwierig, vor allem, wenn es um Kinder geht. Fabian Löpelt hat selbst eine 12-jährige Tochter. Ihr erzählt er nichts von seinen Einsätzen. Aber er war schon oft mit ihr auf dem Friedhof, redet mit ihr darüber, wie das ist mit dem Sterben.

Für Michael Müller, den Pfarrer der Autobahnkirche in Uhyst, ist das einfacher. Er hat seinen Glauben. „Ich fahre nach einem Einsatz grundsätzlich nicht auf die Autobahn“, erzählt der 64-Jährige. „Mein Vorteil aber ist, dass ich in die Kirche gehen und eine Kerze anzünden kann. So schaffe ich das.“ Seit 14 Jahren arbeitet Michael Müller schon als ehrenamtlicher Notfallseelsorger. Seit es das Kriseninterventionsteam, kurz „Kit“, im Landkreis gibt, leitet und koordiniert er die Arbeit der ehrenamtlichen Mitstreiter. Es sind Sozialarbeiter, Rettungsassistenten, Psychologen, Krankenschwestern – Ehrenamtliche, die freiwillig da sind, um Menschen in Situationen größter Seelennot nicht allein zu lassen.

Oft sind es auch Helfer, die ihre Hilfe brauchen. So wie beim Unfalldrama Ende September auf der B 6 in Fischbach: Ein Mann lenkt seinen BMW mit voller Wucht und Absicht gegen einen Baum. Seine vier und fünf Jahre alten Kinder – ein Mädchen und ein Junge – sterben.

Pfarrer Michael Müller fährt an diesem Septembersonntag zu den Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr Arnsdorf an den Unfallort. Der Schock sitzt tief. Der Anblick der Kinder will nicht aus den Köpfen. Michael Müller bleibt lange, schweigt und redet mit den Feuerwehrleuten. Er ist in solchen Situationen nicht der Pfarrer. In solchen Momenten kann man nicht mit dem lieben Gott kommen. Michael Müller sagt den Feuerwehrleuten, dass sie nicht zu spät gekommen sind. Er sagt Ihnen, dass sie nichts hätten tun können. Dass sie alles richtig gemacht haben. Das zu wissen, ist sehr wichtig für die Ersthelfer am Unfallort. Vor allem, wenn Unfallopfer bei ihrem Eintreffen noch am Leben sind und während des Einsatzes sterben.

Gerade, als sich Michael Müller von den Arnsdorfer Kameraden verabschieden will, kommt ein Mann im schwarzen Anzug auf ihn zu. „Haben Sie auch noch ein bisschen Zeit für mich?“, fragt ihn mit brüchiger Stimme der Bestatter, der die toten Kinder vom Unfallort abholen musste. „Selbst für jemanden, der täglich mit dem Tod zu tun hat, ist das manchmal nur schwer zu verkraften“, sagt Müller. Er wird noch ein langes Gespräch mit dem Bestatter haben. Und wie immer bei seinen Einsätzen wird er auch ihm seine Telefonnummer hinterlassen. Der Bestatter kommt heute immer noch zum Reden zu ihm nach Uhyst.

78 Notfalleinsätze haben Michael Müller, Fabian Löpelt und die anderen Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams in diesem Jahr schon gehabt. Sie sind zu schweren Unfällen gerufen worden, haben Todesnachrichten überbracht, haben versucht, Kindern den Selbstmord des Vaters zu erklären, haben Mütter an den Unfallort ihrer Kinder begleitet und Lokführern bewusstgemacht, dass sie keine Schuld trifft.

Ein Job für jeden ist das nicht. „Man muss vor allem selbst eine positive Lebenseinstellung haben“, sagt Fabian Löpelt, „und eine eigene Erdung“. Der 36-Jährige strahlt eine für sein Alter erstaunliche Lebenserfahrung und Gelassenheit aus. Auch Abgebrühtheit. Vielleicht braucht man die, wenn man immer wieder auf so grausame Weise mit Tod und Leid konfrontiert wird. Auch wenn die Menschen, die leiden, Fremde sind.

Manchmal fehlen auch den Krisenhelfern die Worte. Und manche Bilder bekommen auch sie nicht mehr aus dem Kopf. Bei Fabian Löpelt ist es das Bild eines toten Kindes. Er steht mit den Eltern an der Trage, auf der der Junge liegt. Er weiß, dass das für die Eltern sehr wichtig ist. Und das ist es wert.