Von Ines Mallek-Klein
Er ist riesig. Seine Spannweite misst zwei Meter fünfzig, und er hängt über der Sternenwelt in Herrnhut. Der rot-weiß Gezackte ist beim Tag der offenen Tür, der jedes Jahr in der Manufaktur stattfindet, das beliebteste Fotomotiv, erzählt Jacqueline Schröpel.
Sie ist in der Sternenmanufaktur für das Marketing zuständig, und eine ihrer wichtigsten Missionen ist es, den Stern, der von der Geburt Jesus kündigt, zu einem ganzjährigen Botschafter zu machen. Weg von dem reinen Weihnachtsgeschäft, hin zu einem in Handarbeit gefertigten Produkt, das zwölf Monate im Jahr Liebhaber und auch Käufer findet.
Mit Missionen hat man in Herrnhut Erfahrung. Mit ihnen fing alles an. Es war das Jahr 1722, als Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf den protestantischen Flüchtlingen aus Böhmen auf seinem Land erlaubte, zu siedeln und zu arbeiten. 1732 wurde die Herrnhuter Brüdergemeine gegründet. Eine Gemeine, in der alle Mitglieder gleich sind. Schon kurz danach zogen die Bewohner als Missionare in die Welt. Es ging ihnen um die Verbreitung des evangelischen Glaubens, aber auch um die Wissensvermittlung, wie man das Vieh richtig hält und Getreide so aussät, dass die Erträge maximiert werden.
Ihre Kinder schickten die Herrnhuter Missionare zurück in die Oberlausitz an Internate, wo sie auch Weihnachten verbrachten und dort, als Trost gegen das Heimweh, die ersten Herrnhuter Sterne bastelten. Die Anregung dazu hatten sie im Mathematikunterricht bekommen, wo die Zacken dazu dienten, geometrische Formen zu vermitteln. Es gab schließlich richtige Wettbewerbe zwischen den Internatsgruppen, wer den größten und schönsten Stern baut.
Mit den Sternen ein Geschäft zu machen, war schließlich die Idee des Buchhändlers Pieter Hendrik Verbeek. Das ist jetzt 120 Jahre her. Vieles hat sich in dieser Zeit geändert. Eines aber nicht. Und das ist die Handarbeit, in der der Stern hergestellt wird. Egal ob in der robusteren Plastikvariante, die erstmals in den 1930er-Jahren gefertigt wurden, oder in der herkömmlichen Papierversion. Fünf Arbeitsschritte sind nötig, um eine Zacke zu vollenden. Und bis der Stern komplett ist, geht er 125 Mal durch die Hände der Mitarbeiter. Rund 100 sind es mittlerweile, die hier in Herrnhut ganzjährig die Zacken schneiden, kleben und die Rähmchen anbringen. Besonders großes Geschick braucht man für die bisher kleinsten Sterne aus Papier. Sie haben einen Durchmesser von gerade einmal 13 Zentimetern. „Unsere Mitarbeiter brauchen rund ein Jahr, um den Bau der Sterne zu lernen und weitere sechs Monate, um Routinen zu entwickeln“, erzählt Jacqueline Schröpel.
Entsprechend groß ist das Interesse des Unternehmens, einmal eingestellte Beschäftigte auch zu behalten. Denn sie sind wahre Meister im Zusammenbau. Die Fertigung eines kleinen Papier-sterns dauert bis zu 90 Minuten. Gerade einmal drei Minuten sind indes für das Kleben eines kleinen Plastiksternchens nötig, dessen Zacken auf einen Innenrahmen gesetzt werden.
Den Herrnhuter Stern erkennt man an seinen 25 Zacken, 17 viereckige und acht dreieckige. Die geometrische Anordnung ist nicht nur patentiert. Sie hat es in das sächsische Lehrbuch für Mathematik geschafft. Sie ist es auch, die den Herrnhuter eindeutig vom Zwickauer oder Annaberger Stern unterscheidet. Jacqueline Schröpel schätzt die Mitbewerber aus dem Erzgebirge und weiß, dass der Herrnhuter Stern seinem Besitzer einiges abverlangt. Händler Pieter Hendrik Verbeek war es nämlich, der die Idee hatte, den Stern in Einzelteilen zum Zusammenbauen zu verschicken. Und das ist auch heute noch möglich, zumindest ab dem Durchmesser von 40 Zentimetern. Viele Käufer entscheiden sich ganz bewusst für den Bausatz und beginnen die Weihnachtszeit mit dem Zusammenbau des Sterns in Familie.
Die Urform des Herrnhuter Sterns ist Weiß für die Unschuld und Rot für das Blut Jesu. Heute gibt es den Stern in 70 verschiedenen Varianten, darunter auch Blau oder Grün.
Da die Manufaktur in neun bis zehn Monaten die Ware vorproduziert, ist entsprechender Lagerplatz Voraussetzung. Den hat man 2010 gleich mit geschaffen, als die Manufaktur an der Oderwitzer Straße in Herrnhut erweitert wurde. Dort ist auch die Schauwerkstatt, in der man bis zu sechs fleißigen Sternenfrauen bei ihrer Arbeit zusehen kann. Über ihnen thront ein Himmel aus großen und kleinen Herrnhutern, in Rot, Gelb, Weiß und auch Türkis. Letztere ist die Farbe der diesjährigen Sonderedition, die Herrnhut seit 2015 herausbringt. „Wir wollen damit vor allem auch jüngere Käufer ansprechen und zum Sammeln animieren“, sagt Jacqueline Schröpel. Das Konzept geht auf. Die kleinen Sterne sind sehr gefragt. „Wer einen möchte, sollte sich mit der Bestellung beeilen“, so die Marketingchefin.
Doch Herrnhut arbeitet nicht nur an neuen Farben, sondern auch an technischen Innovationen. Seit einiger Zeit gibt es LED-Birnen für die kleinen Sterne. „Das war eine echte Herausforderung. Die marktüblichen Varianten leuchten den Stern im oberen Drittel nicht genügend aus“, so Jacqueline Schröpel. Das wollte Herrnhut seinen Kunden nicht anbieten und entschloss sich gemeinsam mit einem Birnenhersteller zu einer Sonderanfertigung. Die ist mit gut vier Euro etwas teurer in der Anschaffung, leuchtet den Stern aber optimal aus und spart noch dazu Strom. Und genau das war auch die Absicht vieler Kunden, die ganz bewusst bei Herrnhut nach den Lampen gefragt hatten.
In der Beliebtheit der Sternenfarben gibt es übrigens regionale Unterschiede, weiß Jacqueline Schröpel. Der Norden bevorzugt das schlichte Weiß, vermutlich, weil es dort zum Einrichtungsstil passt. Und in Ostdeutschland ist der geflammte Stern mit dem roten Zentrum und den gelben Spitzen am beliebtesten. Jacqueline Schröpel wundert das nicht. Während zu DDR-Zeiten rund 80 Prozent der Produktion in den Export gingen, war es ausgerechnet jene rot-gelbe Variante, die am häufigsten an die Ostbürger verkauft wurde. Vorzugsweise immer am 11. des Monats, wenn das Herrnhuter Stammhaus in der Löbauer Straße seinen Werksverkauf öffnete und sich lange Schlangen vor den Toren bildeten. „Viele erinnern sich an diesen Stern aus Kindertagen und möchten dann damit auch ihre eigene Wohnung schmücken“, sagt die Marketingexpertin. Weihnachten hat eben mit Tradition und mit Emotion zu tun.
Rund 600 000 Sterne werden auch in diesem Jahr wieder die Manufaktur verlassen. Man bekommt sie ganzjährig bei 1800 Fachhändlern bundesweit, in der Herrnhuter Schauwerkstatt oder auf zahlreichen Weihnachtsmärkten, auf denen die Manufaktur mit eigenen Ständen vertreten ist.
Übrigens, im Kirchsaal der Brüdergemeine Herrnhut gibt es einen ganz besonderen Stern. Er zählt 111 Spitzen, und er erinnert an die ersten Sterne, die die Schüler einst gebaut haben.
Weitere Infos zu Veranstaltungen, dem Werksverkauf und dem Sortiment unter https://www.herrnhuter-sterne.de/.