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Liebesfeindliches Kettensägenmassaker

Der 1. Mai gilt in Tschechien als Feiertag der Liebenden. Paare küssen sich dann unter einem blühenden Baum. In Prag fällt das wohl aus. Gärtner haben den Apfelbäumen von SZ-Korrespondent Hans-Jörg Schmidt einen Radikalschnitt verpasst.

Von Hans-Jörg Schmidt
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Der Maifeiertag ist in Tschechien ein Tag der Liebe. Paare kommen nach Prag und legen Blumen an der Statue von Karel Hynek Mácha nieder und küssen sich anschließend unter einem Baum, verheißt das Glück und Gesundheit für die Zukunft.
Der Maifeiertag ist in Tschechien ein Tag der Liebe. Paare kommen nach Prag und legen Blumen an der Statue von Karel Hynek Mácha nieder und küssen sich anschließend unter einem Baum, verheißt das Glück und Gesundheit für die Zukunft. © Canva (Symbolfoto)

Ehe sich die Hobbygärtner unter Ihnen über meine vermeintliche Unkenntnis aufregen: ja, Apfelbäume sollen im Februar oder März zurückgeschnitten werden. Aber doch nicht so brutal wie vor den Häusern unserer kleinen Prager Siedlung. Eine Gärtnerkolonne, die ich wegen ihrer nervigen Laubbläser eh schon lange ins Herz geschlossen habe, hat jüngst mit ihren Kettensägen ein regelrechtes Massaker angerichtet. Es ist völlig ausgeschlossen, dass sich die Apfelbäume so davon erholen werden, dass man sich am 1. Mai unter ihren Blüten wird küssen können. Wir können froh sein, wenn bis dahin wieder erste Zweige sprießen werden.

Diese Tradition des Küssens ist lang. Zu sozialistischen Zeiten schwänzten die „Staatsfeinde“ die Mai-Demonstration; aber die Kuss-Arie nie. Prag hatte schon immer sehr viele Obstbäume und damals „Staatsfeinde“. Die Küsserei hat mit dem wohl wichtigsten tschechischen Dichter der Romantik zu tun, Karel Hynek Mácha. Dessen trauriges Schicksal dauert viele bis heute. Mit nicht einmal 26 Jahren starb er an einer Infektion, drei Tage vor seiner geplanten Hochzeit. Danach erlebte sein zunächst abgelehntes dichterisches Hauptwerk „Maj“ über die unerfüllte Liebe zweier Menschen den bis heute anhaltenden Kultstatus. Jarmila, so heißt es da, wartet auf ihren geliebten Wilhelm. Der aber kommt nicht, hat in einem Anfall von Eifersucht gemordet und wurde dafür hingerichtet, was die ungeküsste Jarmila in den Selbstmord treibt.

So viel Leid kann man nur mit ganz vielen Küssen tilgen. Unter blühenden Obstbäumen oder direkt am Mácha-Denkmal auf dem Prager Laurenziberg, unter dem etwas kümmerlich geratenen Nachbaus des Pariser Eifelturms, den dennoch jeder Prag-Besucher zumindest vom Sehen her kennt. Speziell der Laurenziberg ist voll von Obstbäumen, die am 1. Mai in schönster Blüte stehen. So wie normalerweise auch meine Apfelbäume vor dem Haus. Wenn die nicht gerade mit Kettensägen malträtiert worden wären.

Was bleibt als Ausweg? Eigentlich habe ich die Bäume mit den schönsten Blüten in meinem Garten. Aber die großen gelbweißen von der Magnolie oder die violetten, stark duftenden vom Flieder sind am 1. Mai schon hinüber. Und mit Obst sind sie nicht mal entfernt verwandt. Ich werde meine tschechischen Nachbarn fragen. Tschechen sind flexibel. Küsse am 1. Mai, soviel ist klar, müssen sein.