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Von Caféhäuslern und Bessermenschen

Eine neue Autorengeneration aus Tschechien kümmert sich auch um die weißen Flecken in der Geschichte. Mit überraschenden Einsichten.

Von Karin Großmann
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Kateřina Tučková erzählt in ihrem Roman von der Vertreibung der Deutschen 1945
Kateřina Tučková erzählt in ihrem Roman von der Vertreibung der Deutschen 1945 © PR

Die schräge Ponyfrisur ist das Auffälligste an Kateřina Tučková. Die junge Frau von Ende dreißig veranstaltet eine besondere Stadtführung. Sie zeigt die Rückseite von Brno. „In die Bronx gehen auch die Einheimischen ungern.“ Die Häuser zu beiden Seiten der schmalen Straße wurden wohl noch nie renoviert. Die Klingelschilder sind mit immer neuen Namen dick überklebt. Die bröckelnde Inschrift einer Fassade erinnert in deutschen Buchstaben an die mährische Glas- und Spiegelindustrie. Daneben führt ein dunkler Gang durchs Haus in einen Hinterhof. Laubengänge verbinden die Wohnungen. Dafür steht das Wort Pawlatsche, es wanderte aus dem Tschechischen ins österreichische Deutsch. Am Geländer hängt Wäsche zum Trocknen. Für ein paar Tage kam der Winter nach Brno zurück.

Die Häuser wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Arbeiter der Textilfabriken gebaut. Auf jeder Etage gab es eine Toilette. 1942 wurden in dem Hof Juden für den Abtransport in die Vernichtungslager gesammelt. Heute leben hier Roma-Familien. Es ist nicht der einzige Ort, an dem sich mitteleuropäische Geschichte bündelt. Das spielt in der Literatur des Landes eine wichtige Rolle.

In dem Hinterhof in Brno leben Roma. 1942 wurden hier Juden zusammengetrieben für den Transport in die Vernichtungslager.
In dem Hinterhof in Brno leben Roma. 1942 wurden hier Juden zusammengetrieben für den Transport in die Vernichtungslager. © kgr


Zuletzt waren es große Namen wie Milan Kundera, Bohumil Hrabal oder Jaroslav Seifert, die hierzulande das Bild vom benachbarten Buchmarkt prägten. Danach kam eine Weile nichts. Jetzt will Tschechien den Auftritt als Gastland bei der Leipziger Buchmesse im März nutzen, um eine neue Schriftstellergeneration bekannter zu machen. Rund 70 Titel wurden dafür ins Deutsche übersetzt. Autoren wie Jiří Hájíček, Markéta Pilatová oder Radka Denemarková thematisieren auch die neuralgischen Punkte der tschechischen Vergangenheit.

Kateřina Tučková erzählt in ihrem jüngsten Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen“ vom sogenannten Brünner Todesmarsch. Etwa 27 000 deutschsprachige Einwohner – die Hälfte aller Deutschen in der Stadt – waren am letzten Maitag 1945 beim Augustinerkloster zusammengetrieben worden und dann 55 Kilometer weiter bis zur österreichischen Grenze. Der Zug bestand vor allem aus alten Männern, Frauen, Kindern und Säuglingen. „Die deutschen Befehlsgeber waren geflohen, an ihnen konnte man sich nicht mehr rächen“, sagt Kateřina Tučková. Viele Vertriebene blieben erschöpft im Straßengraben zurück. Die Zahl der Opfer schwankt zwischen 4 000 und 8 000.

Marsch der Versöhnung

Die Autorin erzählt, wie sie auf der Suche nach Zeitzeugen drei Frauen fand, die als Mädchen den Todesmarsch erlebt hatten. „Sie berichteten von einer jungen Mutter aus einer deutsch-tschechischen Familie, die mit einem Baby im Kinderwagen unterwegs war. Sie war 21, so alt wie ich damals, deshalb ging mir das gleich zu Herzen.“ Gerta wurde zur Titelheldin ihres zweiten Romans.

Um zu wissen, wie sie sich auf dem Marsch fühlte, ist Kateřina Tučková mit einigen Freunden und Kollegen den Weg von damals nachgegangen. „Ich hatte unglaubliche Schuldgefühle, weil ich mir anmaßte, etwas von ihrer Angst und ihren furchtbaren Lebensumständen begreifen zu wollen. Aber es hat mir geholfen, das Buch zu schreiben.“ 2015 initiierte sie einen Marsch der Versöhnung.

Ihr Buch erschien im Host Verlag Brno. Es ist das renommierteste Verlagshaus in Tschechien für zeitgenössische Belletristik. Der Verleger Miroslav Balaštík erzählt, wie er Anfang der Neunzigerjahre ganz newcomermäßig zwar nicht in einer Garage, aber doch in einer Kneipe startete. Mit zwei Freunden gab er zunächst eine Zeitschrift heraus. Das erste Buch war dann ein dünnes Lyrikbändchen. „Ein unbekannter Verlag druckte Gedichte eines unbekannten Autors – und alle Tageszeitungen im Land rezensierten das!“ Miroslav Balaštík kann darüber immer noch staunen.

Host, führender Verlag für Gegenwartsliteratur in Tschechien, sitzt in einer ehemaligen Fabrik. 
Host, führender Verlag für Gegenwartsliteratur in Tschechien, sitzt in einer ehemaligen Fabrik.  © kgr


Der Host-Verlag veröffentlicht jetzt etwa 150 Bücher im Jahr. Die Literaturzeitschrift entwickelte sich zur wichtigsten des Landes. Doch dem Sitz im Hinterland einer ehemaligen Fabrik merkt man die Aufbruchsstimmung immer noch an. Holzbalken und Glasfenster trennen die Büros voneinander ab, die sich um eine Kaffeeküche gruppieren. In den Regalen stehen prächtig bebilderte Kinderbücher – dafür war Tschechien immer berühmt – neben den Universalbestsellern von Stieg Larsson, Jussi Adler-Olsen oder Liu Cixin. Auf die Lizenz für den Sadomaso-Mehrteiler „Fifty Shades of Grey“ hat der Verleger aber verzichtet. Darauf ist er ein bisschen stolz.

Der Host-Verlag stellt sich auf der Leipziger Buchmesse ebenso vor wie etwa der Akademie-Verlag, der in Prag eine eigene mehrstöckige Buchhandlung am Wenzelsplatz betreibt. An den Tischen im hinteren Teil sitzen einzelne alte Männer in weiten, braunen Anzügen beim Kaffee. Es sieht aus, als könnte Franz Kafka kurz vorbeikommen. Auf jedem Tisch liegt ein Buch des englischen Rabbiners Jonathan Sacks: „Nicht im Namen Gottes“. Darin liegt immer die Speisekarte. Darauf steht immer die Zuckerdose.

Start am Dresdner Bahnhof

Kateřina Tučková erzählt, dass „Caféhäusler“ heute manchem als Schimpfwort gilt, ebenso wie „Bessermensch“, eine Steigerung des deutschen „Gutmenschen“. So werden Künstler und Literaten genannt, die den Kurs der neuen Regierung nicht mittragen wollen. „Das Vermächtnis von Vaclav Havel ist zwar für meine Generation noch wichtig“, sagt Katerina Tuchkova. „Doch es gerät immer mehr in Vergessenheit. Die Politiker von heute interessieren sich weniger für die Menschenrechte, sie orientieren sich an den ökonomischen Interessen.“

Erfreulicherweise unterstützt das tschechische Kulturministerium den Auftritt des Landes auf der Leipziger Buchmesse und weitere Veranstaltungen bis zum Jahresende. Der Messeauftakt findet am 19. März auf dem Dresdner Hauptbahnhof statt. Eine lange Nacht der tschechischen Literatur soll daran erinnern, dass von diesem Bahnhof aus vor dreißig Jahren Züge mit ostdeutschen Flüchtlingen nach Prag rollten.