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Gebt dem Pazifismus wieder eine Stimme

Der Traum vom Frieden kann die Wirklichkeit nicht ausblenden. Doch er bleibt ein wichtiger Ausgleich zum Albtraum vom Krieg. Ein Kommentar.

Von Marcus Thielking
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Pazifismus gehört zur Demokratie, meint Sächsische.de-Redakteur Marcus Thielking.
Pazifismus gehört zur Demokratie, meint Sächsische.de-Redakteur Marcus Thielking. © plainpicture

Am Ende des Jahres kann nur noch einer helfen – Winnetou. In Karl Mays Abenteuerroman „Weihnacht“ aus dem Jahr 1897 reitet der Häuptling der Apachen mal wieder mit Blutsbruder Old Shatterhand in friedlicher Mission durch den Wilden Westen. Sie wollen den Streit zwischen zwei verfeindeten Indianerstämmen schlichten.

Doch da ruft Yakonpi-Topa, der Häuptling der Kikatsa-Upsarokas: „Frieden? Die Kriegsbeile sind ausgegraben, weil die Schlangen unsere Krieger ermordet haben. Nur Blut kann diese Tat abwaschen. Wie kann Friede zwischen uns und ihnen sein!“

Der Traum vom "ewigen Frieden"

Schließlich wird, wie meistens bei Karl May, der Konflikt doch noch friedlich gelöst, und alle feiern zusammen Weihnachten in den Rocky Mountains. O du fröhliche! Die Wirklichkeit ist leider komplexer als die Fantasiewelt des Abenteueronkels aus Radebeul. Aber den Traum von einer Welt, in der die Friedliebenden und Guten über die Kriegslüsternen und Bösen triumphieren, den hat Karl May Generationen von Leserinnen und Lesern in die Köpfe gezaubert – „jenen süßen Traum“, wie ihn der Philosoph Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift „Zum ewigen Frieden“ nannte.

Grüne Außenministerin im Krieg: Annalena Baerbock zu Besuch im Osten der Ukraine.
Grüne Außenministerin im Krieg: Annalena Baerbock zu Besuch im Osten der Ukraine. © Bernd von Jutrczenka/dpa/Archiv

Sind nun solche pazifistischen Träume nichts als Hirngespinste, die uns in einer Welt voller Schurken ins Verderben führen? Hat uns Russlands Angriff auf die Ukraine nicht wieder vor Augen geführt, dass eine Welt ohne Panzer, Raketen und Soldaten eine naive Illusion ist? Wusste nicht auch Winnetou mit seiner Silberbüchse umzugehen und zu töten?

Kleinlaut ist der Pazifismus im Jahr 2022 geworden. Die Grünen, einst als Abrüstungspartei gegründet, sind jetzt für Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet. Auch in den Kirchen wird bei den Weihnachtsgottesdiensten nicht nur das Ideal der Gewaltlosigkeit Jesu gepredigt werden. Die evangelische Kirche betont offiziell das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. Die katholischen Bischöfe haben erklärt, Rüstungslieferungen zur Verteidigung würden von der „kirchlichen Friedensethik bejaht“. Sag mir, wo die Blumen sind – wo sind sie geblieben?

Pazifismus gehört zum Pluralismus

Man muss selbst kein Pazifist sein, um das Verstummen der Friedensapostel zu bedauern. Man kann auch als Anhänger nüchterner Realpolitik und als Freund der Nato zur Einsicht kommen, dass der Pazifismus eine Stimme im Konzert der Demokratie bleiben sollte. Das ist schon ein Gebot des Pluralismus, der kein Selbstzweck ist. Meinungsvielfalt – der Wettstreit um die besten Argumente – macht eine Gesellschaft stark. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, wie Putin und andere autoritäre Herrscher glauben.

Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, bei der Einweihungszeremonie des Weihnachtsbaumes auf dem Sofiivska-Platz in Kiew.
Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, bei der Einweihungszeremonie des Weihnachtsbaumes auf dem Sofiivska-Platz in Kiew. © dpa/SOPA/ZUMA

Das pazifistische Ideal einer Welt ohne Waffen erscheint heute illusionärer denn je. Und doch ist es bedenklich, wenn dem Wunsch nach Wehrhaftigkeit und Widerstand kaum noch etwas entgegengesetzt wird. Militärisches Denken und Vokabular sickert in die öffentliche Sprache. Frontverlauf. Panzerhaubitzen. Taktische Atomwaffen. Rückeroberte Gebiete. Puma, Marder, Gepard, Leopard. Aus einem Volk von Hobby-Virologen ist binnen weniger Monate ein Volk von Hobby-Militärexperten geworden. Noch verhängnisvoller ist aber die geistige Abstumpfung und Gleichgültigkeit, mit der viele von uns mittlerweile die Nachrichten vom Krieg verfolgen.

Friedensgebete sind kein Kerzen-Kitsch

Friedensgebete werden die Ukraine nicht retten. Längst sind auch die Friedenslieder verhallt, die im Frühjahr auf den Marktplätzen gesungen wurden. Dabei würde es der Gesellschaft guttun, wenn sie nicht nur über Waffenlieferungen und Gaspreise diskutierte, sondern auch mal wieder innehalten könnte, um Zeichen der Mahnung und Hoffnung zu setzen. Wer das als Kerzen-Kitsch abtut, unterschätzt die politisch-psychologischen Schwingungen, die eine Nation widerstandsfähig machen.

Advent für die Truppe: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) besucht die Bundeswehrsoldaten in Mali.
Advent für die Truppe: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) besucht die Bundeswehrsoldaten in Mali. © dpa

Intellektuell ist der Pazifismus heute leider auf einem Niveau, das oft kaum über ausgehöhlte Parolen hinauskommt: Nie wieder Krieg! Frieden schaffen ohne Waffen! Schwerter zu Pflugscharen! Sogar Rechtspopulisten schwenken die Fahne mit der Friedenstaube, so entwertet ist das Symbol. Vielleicht liegt es daran, dass die Generation ausstirbt, die den letzten großen Krieg noch selbst erlebt hat – die „durch die Scheiße gegangen“ ist, wie es Altkanzler Helmut Schmidt mal nannte.

Was die Großväter noch wussten

Wenn die Großväter erzählten, wie elend, dreckig und erbärmlich das Schlachtfeld in Wahrheit ist, dann hatte das eine glaubhafte Wirkung auf Jüngere. Es war ein Gegengewicht zur Erzählung von modernen Präzisionswaffen und Helden ohne Blut an den Händen. Der klägliche Zustand des Pazifismus hat aber auch damit zu tun, dass Deutschland es sich bequem gemacht hatte im Glauben, das Zeitalter der Kriege in Europa sei vorbei. Friedensmahnungen waren etwas für Sonntagsreden geworden, denen man gern applaudierte, aber kaum zuhörte.

Pazifismus kann auch heißen, sich nicht von der Logik des Krieges vereinnahmen zu lassen. Andere Aufgaben der Politik bleiben wichtig, um Konflikte und Kriege zu vermeiden: Klimaschutz, Entwicklungshilfe, globale Gerechtigkeit, der Ausgleich von Wirtschaftsinteressen mit Großmächten wie China … Nein, so was will zu Weihnachten kein normaler Mensch hören. Also zünden wir erst mal Kerzen an und singen Lieder. Auch das gibt uns Kraft. Wir werden sie brauchen.