Kohle, Erdgas, Öl: Wie sich die EU unabhängig machen will

Von Florence Schulz
Es ist ein Drahtseil, auf dem sich die EU bewegt: Einerseits sollen Wirtschaftssanktionen Russland möglichst hart treffen, andererseits fürchtet die EU einen Abbruch der russischen Energielieferungen und noch höhere Energiepreise. Im Vordergrund steht dabei eines: die Absicherung der europäischen Energieversorgung.
Schwer besorgt darüber zeigten sich am Dienstag auch die EU-Abgeordneten in einer Sondersitzung des Parlaments, wo auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine eindringliche Rede hielt.
In ihrer Abschlusserklärung forderte das Parlament, „die Abhängigkeit im Energiebereich, insbesondere von Gas, Öl und Kohle aus Russland, deutlich zu verringern“ und private Haushalte vor energiepolitischen Folgen zu schützen. Zudem solle „jegliche Zusammenarbeit mit Russland im Nuklearbereich, insbesondere mit Rosatom und seinen Tochtergesellschaften und auch im Rahmen der Internationalen Atomenergie Organisation“ eingestellt werden.

Konkrete Maßnahmen gegen den Energiesektor blieben daher bislang aus, die Sanktionen über das Finanztransaktionssystem Swift wurden so entworfen, dass eine Zahlung der russischen Energierechnungen weiterhin möglich ist. Einzig ein Handelsstopp für Technologien von Ölraffinerien beschlossen die EU-Staaten am Freitag. Dies solle es „Russland unmöglich machen, seine Ölraffinerien aufzurüsten, die dem Land im Jahr 2019 Exporteinnahmen von 24 Milliarden Euro beschert haben“, verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Energieunternehmen ziehen sich aus Russland zurück
Doch auch ohne Energieboykott der EU kommt die Energiebranche in Bewegung: Nachdem Deutschland vergangene Woche die Genehmigung der Gaspipeline Nord Stream 2 pausierte, droht der schweizerischen Nord Stream 2 AG die Insolvenz. Mehrere große Öl- und Gasunternehmen hatten sich in den vergangenen Tagen aus Russland zurückgezogen, darunter BP, Shell und Equinor. Weitere mit Gazprom kooperierende Unternehmen wie Uniper, Wintershall, Gasunie und Engie halten bislang noch an ihrem Geschäftsmodell fest.
Im Kreml werde ein Präsidialdekret vorbereitet, das darauf abzielt, ausländische Investitionen daran zu hindern, das Land zu verlassen, berichtete die Nachrichtenagentur AFP gestern. Dies solle es ausländischen Unternehmen ermöglichen, ohne politischen Druck „fundierte Entscheidungen zu treffen“, sagte Russlands Premierminister Mikhail Mishustin.
Russische Energieakteure schwer getroffen
Zu den von der EU verhängten Sanktionen gehören Sanktionen gegen Einzelpersonen. Unter ihnen sind auch wichtige Akteure der russischen Energiewirtschaft. So wird ihre Reisefreiheit eingeschränkt und ihre Vermögenswerte in der Union werden eingefroren. Unter den 26 Personen auf der am Montag veröffentlichten Liste sind vier bekannte Energiemanager- und Unternehmer: Igor Setschin, langjähriger Gefolgsmann Wladimir Putins und früherer Vizechef der Präsidialverwaltung, leitet den größten russischen Ölkonzern Rosneft. Das Staatsunternehmen ist an mehreren Raffinerien in Deutschland beteiligt, die Raffinerie PCK Schwedt gehört ihm fast vollständig. Die EU wirft Setschin vor, er habe „russische Entscheidungsträger, die verantwortlich sind für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine, aktiv materiell oder finanziell unterstützt und von ihnen profitiert.“

Aus deutscher Sicht ebenfalls besonders relevant ist der Oligarch Michail Fridman. Er ist nicht nur Mehrheitseigentümer der russischen Finanz- und Beteiligungsgruppe Alfa, sondern über seine Letter-One-Holding auch Mitgesellschafter des Kasseler Öl- und Gasförderunternehmens Wintershall Dea. Auch ihm wirft die EU vor, die russische Führung bei ihrem Vorgehen gegen die Ukraine unterstützt zu haben – unter anderem durch Versuche, die USA von Russland-Sanktionen nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim abzubringen.
Der Putin-Vertraute Gennadi Timtschenko hält ebenfalls einen Strauß von Beteiligungen, unter anderem an der Bank Rossyia und am zweitgrößten Gaskonzern Novatek – ein Unternehmen, mit dem RWE zuletzt eine Kooperation bei blauem Wasserstoff und LNG eingehen wollte. Der EU-Sanktionsliste zufolge hat die Bank Rossyia auf der Krim Filialen eröffnet und ist die „persönliche Bank hochrangiger Offizieller der Russischen Föderation“.
Das russische und zugleich weltgrößte Öltransportleitungsnetz verwaltet Nikolai Tokarew, der Vorstandschef der Pipeline-Gesellschaft Transneft. Er hat dem EU-Dokument zufolge schon beim sowjetischen Geheimdienst KGB mit Putin zusammengearbeitet, die EU bezeichnet ihn als „Staatsoligarchen“ und „Hauptsponsor“ einer palastähnlichen Residenz am Schwarzen Meer, die nach Recherchen einer Gruppe um den inhaftierten Dissidenten Alexej Nawalny für Putin bestimmt ist.
Gemeinsame europäische Gasreserve
Weitere Maßnahmen der EU werden kommende Woche erwartet, wenn die Kommission ihre überarbeitete Version des „Werkzeugkastens“ gegen hohe Energiepreise vorstellen möchte. Damit soll die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Gasreserve angeregt werden sowie eine verpflichtende Mindestbefüllung der Gasspeicher. Darüber hinaus dürfte die Kommission nach Berichten der Nachrichtenagentur Reuters auch einen Anreizmechanismus vorschlagen, um Energieverbraucher und Industrieunternehmen in Zeiten hoher Nachfrage zum Stromsparen anzuregen.
Außerdem erwägt die Kommission offenbar, einen Vorschlag Spaniens von vergangenem Jahr aufzugreifen. Er sieht vor, die Besteuerung übermäßiger Profite (sogenannter windfall profits) durch die hohen Gaspreise anzuregen. Die eingenommenen Steuergelder sollen in Energieeffizienzmaßnahmen fließen den Energiekonsumenten zugutekommen.
Auf dem Tisch liegt auch ein Vorschlag Griechenlands, ein „EU-Solidaritätsinstrument zur Bewältigung der Energiekrise“ zu schaffen. Schon vergangene Woche hatten sich die EU-Regierungschefs mit der Idee befasst. Demnach soll die Europäische Investitionsbank Mitgliedsstaaten niedrig verzinste Kredite zur Bereitstellung von Energiehilfen zur Verfügung stellen. Die Kredite, so heißt es in einem Brief von Griechenlands Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis an die EU-Kommission, sollen nicht an die Staatsschulden angerechnet werden und sich nach dem Energiebedarf und dem Anteil der im CO2-Emissionshandel versteigerten Verschmutzungsrechte bemessen.
Kommission setzt auf solidarische Gasabkommen
Auch auf Ebene der Prävention sei die EU aktiv, betonte am Montag EU-Energiekommissarin Kadri Simson. So gebe es einen Notfallplan der Kommission für den Fall, dass Russland seine Energieexporte nach Europa einstellt. „Eine vollständige Unterbrechung wäre eine Herausforderung für uns, aber wir haben Instrumente, um diese zu meistern.“ Entscheidend sei darüber hinaus, dass die Mitgliedsstaaten so schnell wie möglich Abkommen über solidarische Gaslieferungen schließen, da sie regionalen Gasspeichermöglichkeiten sehr unterschiedlich seien. Nur weniger solcher Abkommen existierten bisher. „Damit fehlt ein Element unserer Sicherheitsarchitektur, das können wir uns nicht leisten“, so Simson. Als erster Mitgliedsstaat hatte Deutschland Ende 2021 solche Abkommen mit Dänemark und Österreich geschlossen.
Zudem verwies die Kommissarin auf die nationalen Ölreserven der Mitgliedsstaaten, die „für mindestens 90 Tage“ reichten. Um aber die Energieversorgung für den nächsten Winter zu sichern, setzt die EU vor allem auf LNG-Importe. Um die bestehenden Terminals „optimal auszulasten“, plant die Kommission, eine „Plattform“ zur Koordinierung der Lieferungen zwischen Exporteuren, Mitgliedstaaten und Terminalbetreibern zu schaffen. Wann diese stehen soll, ist bislang aber nicht bekannt. Derzeit fließen 37 Prozent der US-LNG-Exporte in die EU, doch noch gebe es Spielraum für eine weitere Auslastung, so Simson. (mit Christian Schaudwet)