Feuilleton
Merken

Krieg in der Ukraine, heute und damals

Zwei junge Frauen reisen in Osteuropa zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs und eröffnen neue Perspektiven auf Putins Krieg.

 6 Min.
Teilen
Folgen
Die Gedenkstätte Babyn Jar in der Nähe von Kiew.
Die Gedenkstätte Babyn Jar in der Nähe von Kiew. © Anadolu Agency via Getty Images

Von Ulfrid Kleinert

Ihre Reisen führen nach Russland und in die Ukraine, nach Belarus, Polen und Litauen. Was Franziska Davies und Katja Makhotina dabei entdecken, erweitert auch Kennern dieser Länder ihren Horizont und lässt sie besser verstehen, was heute im Osten unseres Kontinents geschieht. Die beiden Osteuropaforscherinnen sind im vergangenen Jahrzehnt gut vorbereitet mit Studiengruppen der Münchner und Bonner Universität nach Lwiw und Kiews Babyn Jar gefahren, nach Minsk, ins ehemalige Stalin- und Leningrad, nach Vilnius, Chatyn, Belzec und Majdanek.

Sie haben mit dort Lebenden bewegende Gespräche geführt, Augenzeugenberichte gelesen, Gerichtsakten studiert. Und davon berichtet, wie es Tätern und Opfern, auch wie es Kindern im Krieg geht. Alles ist gut lesbar, aber menschlich manchmal kaum zu ertragen. Dass sie selbst betroffen sind, weil der eigene Großonkel zu den Opfern gehörte, weil sie selbst junge Mütter sind und Freundinnen ihrer osteuropäischen Informanten wurden, ist spürbar. Das schärft die Klarheit ihrer Analyse und die humane Qualität ihres Berichts.

Reise an den Ort des Grauens

Die Publikation war fast fertig, als der Putins Krieg gegen die Ukraine begann. Sie wurde dadurch überraschend aktuell. Im Vorwort und im Epilog nehmen die Autorinnen darauf Bezug. Entstanden ist ein einzigartiges Buch, das alle es Lesenden mitnimmt auf eine Reise an Orte des Grauens von vor über 80 Jahren und in unseren Tagen. Aber sie auch aufatmen lässt an den Stellen, an denen Humanität und Ehrlichkeit aufscheinen. Das Buch zeigt das Böse. Doch auch Menschen, die es überwinden – die Autorinnen selbst gehören erkennbar dazu.

Von der Fülle der Reisestationen, zu denen uns die Autorinnen kundig führen, sei beispielhaft je eine aus der Ukraine und aus Russland ausgewählt: Kiew und das damals sowjetische Stalingrad (heute Wolgograd): 33.771 Kiewer sind Ende September 1941 in Babyn Jar vor den Toren der Stadt von deutscher SS und Wehrmacht binnen dreier Tage erschossen worden – vor einer Schlucht, die ihnen zum Massengrab wurde.

Sie waren zu einer angeblichen Umsiedlung dorthin geführt worden. Einige wenige Schwerverletzte konnten sich unter den Toten verbergen und entkommen, als die Mörder abgezogen waren. Die Täter wurden trotz eindeutiger Anklagen des Frankfurter Staatsanwalts Fritz Bauer von deutschen Gerichten gar nicht oder nur geringfügig bestraft. Und an die Opfer wurde noch im vorletzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts in dem in eine Parkanlage verwandelten Tatort nur mit Hinweisen darauf gedacht, dass hier Sowjets von deutschen Nazis ermordet worden seien. Dabei wurde verschleiert, dass es sich hier um einen frühen Ort der Massenvernichtung ukrainischer Juden handelt.

2014 aber finden die Autorinnen an diesem Platz auch eine große jüdische Menora, auf deren Armen Bilder von vor Schmerz und Schrecken verzerrten Gesichtern eingelassen sind. Sie soll 1991 nach der Auflösung der Sowjetunion dort aufgestellt worden sein. Später wurde dort auch ukrainischer Nationalisten gedacht; der nach der „orangenen Revolution“ von 2004 regierende ukrainische Staatspräsident Wiktor Juschtschenko ließ im Rahmen seiner nationalen Gedenkpolitik 2010 den wegen seiner Kollaboration mit den Nazis umstrittenen Stephan Bandera zum „Held der Ukraine“ erklären.

Auch Putin entehrte den Ort des Massenmordgedenkens. Als er am 24. Februar 2022 seinen Krieg gegen die Ukraine begann, traf danach eine seiner vielen über Kiew abgeworfenen Bomben auch Babyn Jar.

Geschichte als Waffe

An dem wechselvollen Gedenken am Kiewer Ort des „Holocaust der Kugeln“ lässt sich erkennen, was passiert, wenn Diktatoren „Geschichte als Waffe einsetzen“, ohne nach der Wahrheit zu fragen. Putin hat das auf die Spitze getrieben mit der seinen Angriffskrieg begründenden propagandistischen Erklärung von der „Befreiung der Ukraine aus der Hand der Nazis“. Ein frühes Beispiel dafür findet sich auch in der Deutung der Fast-Eroberung und mühsam erkämpften Befreiung der Wolgastadt Stalingrad im Herbst und Winter 1942/43. Hitler, der die Stadt vernichten wollte und diesem Ziel eine ganze deutsche Armee opferte, pries die Stadt mit Görings Stimme als Ort des „größten Heroenkampfs unserer Geschichte“.

Am Tag der Zerschlagung des deutschen Kessels um die 400000-Einwohnerstadt Einwohnerstadt titelte der „Völkische Beobachter“: „Sie starben, damit Deutschland lebe“. Stalingrad wurde bis in die deutsche Nachkriegszeit zum Sinnbild „für deutsche Treue zu Führer und Volk“. Stalin aber verlieh ihr den in der Sowjetunion erstmals vergebenen Titel der „Heldenstadt“ (gorod-geroj). Es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, ehe das Leiden der Menschen auf beiden Seiten der Front wahrgenommen wurde.

Russen und Deutsche engagierten sich da gemeinsam für den Erhalt und die Pflege der vielen Zigtausend Gräber. In den Mittelpunkt der Erinnerungsdiskurse der Gegner von einst rückt nun der Schrecken der Schlacht - auch wenn sowjetische Soldaten zu recht weiter den Sinn in ihrem „Beitrag zum Sieg der Überfallenen“ betonen, während deutschen Veteranen nur „die traumatisierende Sinnlosigkeit des Kampfes festzustellen“ bleibt.

Davies und Makhotina berichten davon, dass 2019 in Köln, das inzwischen deutsche Partnerstadt Wolgograds ist, die Ausstellung „Stalingrad. Appell zum Frieden“ vom damaligen, russischen Oberbürgermeister Wolgograds eröffnet wurde. Mantraartig habe er dabei beschworen, „es dürfe nie wieder zu einem Krieg kommen: wir, die junge Generation, seien für den Frieden verantwortlich“. Das war knapp drei Jahre vor dem Einmarsch russischer Truppen in die umzingelte Ukraine.

Noch viele solcher geschichtlichen Dar- und Klarstellungen finden sich in dem eindrucksvollen Buch der beiden Mütter und Wissenschaftlerinnen. Es zeigt, wie platte Kriegsverherrlichungsformeln verhindern zu verstehen, was damals geschehen ist und heute geschieht. Und wie sinnvoll es ist, sich mit den Autorinnen auf die Reise nach Osteuropa und zu den Menschen dort und ihren Geschichten zu begeben.

"Über Stalin darf nichts Negatives gesagt werden"

Eine persönliche Erfahrung bestätigt den im Buch beschriebenen Umgang mit der Wahrheit in diktatorisch geführten Ländern: In einer der Vorlesungswochen, zu denen ich als Gastdozent an die Universität Orel, der zweiten nach Stalingrad 1943 von den deutschen Eroberern 1943 befreiten russischen Großstadt, eingeladen war, lag der Jahrestag der Befreiung von den Nazis. Auf die Bitte hin, als Dresdner Rektor der Evangelischen Hochschule ein Grußwort zu diesem Tag zu sprechen, sprach ich zunächst kurz davon, was Russen und Deutsche historisch im Guten miteinander verbindet. Die große, auf dem Stadionplatz versammelte Festversammlung hörte meinem Eindruck nach aufmerksam zu.

Als ich aber davon sprach, dass es historisch auch eine Verbindung zwischen Deutschen und Russen im Schlechten gab und auf den Hitler-Stalin-Pakt Bezug nahm, der zum kriegseröffnenden Überfall auf Polen geführt hatte, wich die wohlwollende Zustimmung aus den Gesichtern. Nach Ende der Veranstaltung fragte ich einen an Dresdens Evangelischer Hochschule studierenden Russen, der zugegen war, was denn da passiert sei. Er antwortete: „Glaubst du denn, dass der offizielle Dolmetscher im zweiten Teil deine Worte übersetzt hat? Der hat nur Belangloses geredet, weil bei uns über Stalin nichts Negatives gesagt werden darf.“

Putins Sprachregelungen, Lügen und seine Festnahmen mutiger Wahrheitsbezeuger in den Wochen vor und nach dem 24. Februar 2022 bestätigen leider diese Erfahrung aufs Schrecklichste: Kritik ist nicht erlaubt, auch wenn sie Selbstkritik einschließt. Heute dürfte der Rezensent vermutlich nicht einmal seinen russischen Studierenden an der Uni Orel wahrheitsgemäß erklären, was der Hitler-Stalin-Pakt 1939 bedeutet hat. Damals war das noch möglich.

Franziska Davies/Katja Makhotina: Offene Wunden Osteuropas – eine Reise zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, wbg Theiss, Darmstadt 2022 286 S. 28 €