Feuilleton
Merken

Philosoph Habermas für Verhandlungen mit Putin

Deutschlands berühmtester Philosoph Jürgen Habermas warnt in einem Zeitungsbeitrag vor einer "Schwelle zu einem dritten Weltkrieg".

Von Marcus Thielking
 3 Min.
Teilen
Folgen
Jürgen Habermas, 93, ist Philosoph, Soziologe und einer der einflussreichsten Intellektuellen.
Jürgen Habermas, 93, ist Philosoph, Soziologe und einer der einflussreichsten Intellektuellen. © dpa

Wenn Jürgen Habermas das Wort ergreift, dann wird es groß und gewaltig. Zwei komplette Zeitungsseiten hat das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung am Mittwoch einem Gastbeitrag des Philosophen Jürgen Habermas gewidmet. Überschrift: „Ein Plädoyer für Verhandlungen.“ Der 93-Jährige gilt schon lange als Deutschlands bedeutendster und einflussreichster Philosoph. Sein amerikanischer Kollege Ronald Dworkin nannte ihn sogar einmal den „berühmtesten lebenden Philosophen der Welt“. Habermas gilt als Held der linksliberalen Achtundsechziger-Intellektuellen. Man kann davon ausgehen, dass sein Text auch im SPD-regierten Kanzleramt gründlich studiert wird.

Dass Habermas Sympathie zeigt für die oft als zögerlich kritisierte Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz in der Ukraine-Debatte, wurde schon voriges Jahr deutlich: Im April hatte der Philosoph, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung, vor „kriegstreiberischer Rhetorik“ gewarnt. Dafür musste er sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar den Vorwurf gefallen lassen, seine Argumentation habe „Parallelen“ zur Position der AfD – von Sachsen aus mag man hinzufügen: womöglich auch Parallelen zur Position des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU).

"Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren"

In seinem jetzt veröffentlichten Plädoyer für Verhandlungen erklärt Habermas zwar, der Westen leiste aus guten Gründen militärische Hilfe an die Ukraine. Daraus erwachse aber auch eine Verantwortung. „Aus der Perspektive eines Sieges um jeden Preis hat die Qualitätssteigerung unserer Waffenlieferungen eine Eigendynamik entwickelt, die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben könnte“, warnt er.

Im Gegensatz zum „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ tauchten inzwischen auch kritische Stimmen auf, die auf ein Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängten. „Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren“, schreibt Habermas. Zugleich gibt er zu, es gebe derzeit keine Anzeichen dafür, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin auf Verhandlungen einlassen werde. Man sollte aber „auf energische Versuche drängen“. Anders als etwa die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer in ihrem kürzlich veröffentlichten "Manifest für Frieden" fordert Habermas jedoch keinen Stopp von Waffenlieferungen,

"Eine Schande für die deutsche Philosophie"

Der Philosoph betont, ihm gehe es um den vorbeugenden Charakter rechtzeitiger Verhandlungen. Diese verhinderten, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert – „und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen.“

Habermas nennt es ein Kernproblem der Debatte, dass die Ziele der Ukraine und ihrer Unterstützer unklar seien. „Ist es das Ziel unserer Waffenlieferungen, dass die Ukraine den Krieg „nicht verlieren“ darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen „Sieg“ über Russland?“

Dass Habermas seinen Beitrag als Anstoß zu einer Debatte verstehen dürfte, ergibt sich schon aus seinem Lebensthema, wonach der öffentliche Diskurs eine Grundbedingung der vernunftbasierten Erkenntnis ist. „Der Zustand einer Demokratie lässt sich am Herzschlag ihrer politischen Öffentlichkeit abhorchen“, sagte er einmal.

Den Ton der zu erwartenden Debatte hat am Mittwochvormittag schon mal der frühere ukrainische Botschafter Andrij Melnyk auf Twitter vorgegeben: „Dass auch Jürgen Habermas so unverschämt in Putins Diensten steht, macht mich sprachlos. Eine Schande für die deutsche Philosophie.“ (mit dpa)