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Putin und der Krieg der Worte

Wenn Intellektuelle sich in die Debatte über Krieg und Frieden einmischen, geht es drunter und drüber. Muss das denn sein? Ja, es muss sein! Ein Essay.

Von Marcus Thielking
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Die Dresdner Schriftsteller Durs Grünbein (oben links) und Uwe Tellkamp (oben rechts) warnten schon Anfang Februar vor einem Angriffskrieg Russlands, der Philosoph Jürgen Habermas und die Publizistin Alice Schwarzer befürchten nun eine Eskalation.
Die Dresdner Schriftsteller Durs Grünbein (oben links) und Uwe Tellkamp (oben rechts) warnten schon Anfang Februar vor einem Angriffskrieg Russlands, der Philosoph Jürgen Habermas und die Publizistin Alice Schwarzer befürchten nun eine Eskalation. © dpa

Anfang Februar, drei Wochen vor Russlands Angriff auf die Ukraine, veröffentlichten über 300 Persönlichkeiten aus Kultur und Gesellschaft einen Appell: Sie warnten vor dem Einmarsch Russlands, vor Putins "Hegemonialstreben" und "Aggression" und forderten den sofortigen Abzug der 150.000 russischen Soldaten an der Grenze. "Unsere Solidarität und Hochachtung gilt allen demokratischen Kämpfer:innen in der Ukraine", hieß es zum Schluss der Erklärung.

Unterschrieben war sie von Prominenten wie dem Liedermacher Wolf Biermann, der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und dem Entertainer Harald Schmidt. Aus Sachsen fanden sich in der Liste der Unterzeichner die Namen des Jazzmusikers Günter "Baby" Sommer sowie der Schriftsteller Durs Grünbein und Uwe Tellkamp.

Grünbein? Tellkamp? War da nicht mal was? Tatsächlich hatten sich die beiden zuletzt als Mitunterzeichner in einer Reihe verschiedener Erklärungen und Gegenerklärungen beharkt, im Streit über eine angeblich drohende "Gesinnungsdiktatur". Die Auseinandersetzung gipfelte im März 2018 in einer Podiumsdiskussion der beiden Dichter im Dresdner Kulturpalast, die das Feuilleton bundesweit erregte.

Dass Grünbein und Tellkamp jemals als Mitstreiter für eine gemeinsame Sache auftreten würden, schien seitdem unvorstellbar. Doch Putins Überfall auf die Ukraine und seine Drohung gegen den Westen hat hier längst manche Reihen geschlossen.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verteidigt den offenen Brief der Intellektuellen, die vor einem Dritten Weltkrieg warnen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verteidigt den offenen Brief der Intellektuellen, die vor einem Dritten Weltkrieg warnen. © dpa

Nach über zwei Monaten Krieg brechen aber auch bei diesem Thema allmählich die Debattenlinien wieder auf. Jetzt sorgt ein offener Brief von Intellektuellen für Aufruhr, der vor dem "Risiko eines Dritten Weltkrieges" warnt und Bundeskanzler Olaf Scholz auffordert, keine weiteren schweren Waffen an die Ukraine zu liefern, damit der Konflikt nicht eskaliert.

Unterzeichnet haben auch hier ganz unterschiedliche Prominente aus Kultur und Gesellschaft: die Feministin Alice Schwarzer, der Kabarettist Gerhart Polt, der Schriftsteller Martin Walser, der Filmemacher Alexander Kluge, die Schriftstellerin Juli Zeh.

Für Freunde des Schubladendenkens wird es jetzt unübersichtlich. Die Frage, wie man zur militärischen Unterstützung der Ukraine steht, passt längst in kein Links-Rechts- oder Schwarz-Weiß-Schema mehr. Grünen-Politiker, einst militante Pazifisten, wollen deutsche Panzer liefern.

Der Philosoph Jürgen Habermas, einst intellektueller Held aller Achtundsechziger, warnt in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vor "kriegstreiberischer Rhetorik". Dafür muss sich der 93-Jährige im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar den Vorwurf gefallen lassen, seine Argumentation habe "Parallelen" zur Position der AfD. Der Krieg der Worte ist in vollem Gange.

Schert sich nicht um Intellektuellen-Diskurse: Präsident Putin.
Schert sich nicht um Intellektuellen-Diskurse: Präsident Putin. © AP

Zum guten alten Freund-Feind-Schema der Republik passt es auch nicht, dass ausgerechnet Künstler und Intellektuelle dem Bundeskanzler beispringen, nachdem dieser wiederum wochenlang überwiegend schlechte Presse für seine als zögerlich kritisierte Haltung einstecken musste.

Der offene Brief wie auch der lange Text von Habermas bringen nicht nur ein abstraktes, moralphilosophisches Dilemma zum Ausdruck, sondern zugleich eine Stimmung, die in der Bevölkerung durchaus weit verbreitet ist.

Stammtisch trifft Elfenbeinturm

Laut ZDF-Politbarometer lehnten noch im März 63 Prozent der Deutschen die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine ab. Ende April, nach der Entscheidung des Bundestages, waren immerhin noch 39 Prozent dagegen. Auch hier also Konfusion allenthalben, denn seit wann decken sich akademische Elfenbeinturm-Argumente mit Stammtischmeinungen?

Exakt in diese Schnittmenge springt nun auch noch Sachsens Regierungschef MichaelKretschmer von der CDU, indem der den offenen Brief der Künstler und Intellektuellen verteidigt.

Um das Wirrwarr vollends auf die Spitze zu treiben, wird in der Debatte inzwischen auch über die Frage debattiert, ob eine Debatte überhaupt zur Debatte stehe. Schließlich sei ja Krieg, also "nicht die Zeit für Diskursgespräche", wie etwa Simon Strauß meinte, Schriftsteller und Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Hat sich die deutsche Öffentlichkeit also mal wieder in einem chaotischen Zank verzettelt, der zu nichts führt und unser aller Zeit verplempert?

Der britische Historiker und Hitler-Biograf Ian Kershaw sieht historische Vergleiche mit den Dreißigerjahren skeptisch.
Der britische Historiker und Hitler-Biograf Ian Kershaw sieht historische Vergleiche mit den Dreißigerjahren skeptisch. © dpa

An dieser Stelle könnte man sich noch mal kurz daran erinnern, wer diesen Krieg begonnen hat und brutal weiter treibt: einzig und allein Präsident Putin. Und der schert sich bekanntlich wenig um Diskurse, Umfragen, Journalistenmeinungen, Oppositionsparteien, Talkshows oder gar die Ansichten von irgendwelchen Künstlern und Intellektuellen.

Somit liefert Putin selbst den besten Beweis dafür, dass die Abwesenheit von chaotischen Debatten auch im Krieg nicht unbedingt von Vorteil ist. Denn gerade seine autoritäre Machtausübung ist offenbar eine Ursache für militärstrategisch desaströse Fehleinschätzungen, durch die seine Truppen jetzt peinlich tief im Schlamassel stecken. Wer Meinungsvielfalt und Kritik unterdrückt, macht sich nicht stark, sondern schwach.

Gefahr der nuklearen Katastrophe

Was wir derzeit erleben, ist übrigens auch keine typisch deutsche Debatte, wie mancher Kritiker der Intellektuellen-Einmischung meint. So hat etwa der britische Historiker und Hitler-Biograf Ian Kershaw, ein versierter Kenner der Geschichte der Weltkriege im 20. Jahrhundert, kürzlich in einem Interview mit der Washington Post beschrieben, warum er die derzeit allzu populären Vergleiche mit den Dreißigerjahren skeptisch sieht.

Die Appeasement-Politik, also die anfängliche Zurückhaltung der britischen Regierung gegenüber Hitlers Aggressionen, wird heute als eine der Vorbedingungen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs betrachtet.

Jedoch, so Kershaw: "Die gesamte Situation ist jetzt völlig anders als in den Dreißigerjahren. Denn damals hatten wir es nicht mit Nuklearmächten zu tun." Einem harten Vorgehen des Westens gegenüber Putin seien Grenzen gesetzt, meint der Historiker, "um nicht die Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe zu provozieren."

"Mit dem Hintern im Warmen": Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisiert den offenen Brief von Intellektuellen.
"Mit dem Hintern im Warmen": Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann kritisiert den offenen Brief von Intellektuellen. © dpa

Gelehrte wie Kershaw und Habermas sind intellektuelle Instanzen. Was keineswegs heißt, dass sie aufgrund ihrer Gelehrsamkeit automatisch recht hätten und mit ihren Wortmeldungen die Debatte entschieden wäre.

Umgekehrt gibt es aber auch keinen seriösen Grund, Intellektuellen die Urteilskraft abzusprechen, weil sie "mit dem Hintern im Warmen sitzen", so die Wortwahl der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

Der offene Brief hat eine Debatte angestoßen, und ja, alle dürfen nun wieder ihren Senf dazugeben: Politiker von der Regierung, Politiker von der Opposition, Medien, Schriftsteller, Wissenschaftler und nicht zuletzt alle Bürgerinnen und Bürger in Umfragen, Leserbriefen, bei Twitter, Facebook oder am Stammtisch. Das ist nicht lästig, sondern Demokratie. In diesem Krieg, so heißt es, werde auch unsere Freiheit im Westen gegen Putins Diktatur verteidigt. Fangen wir am besten mal gleich bei uns zu Hause damit an.