Kiew. Es gibt nur eine vage Zusage. Mittwoch, 12 Uhr soll man am Checkpoint sein, die Koordinaten für das Interview mit dem engsten Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kommen per Messengerdienst. Knapp zwölf Stunden Zugfahrt von Berlin nach Przemyśl, im äußersten Südosten Polens.
Der Zug ist rappelvoll, hunderte Frauen und ihre Kinder reisen zurück nach Kiew. Die meisten nicht dauerhaft, sondern um kurz ihre Männer wiederzusehen, Urlaub im Kriegsgebiet. Von Przemyśl geht es über Nacht nochmal zwölf Stunden weiter. In Kiew gibt es beim ersten Termin Luftalarm.
Das Interview wird bestätigt. Die Gegend um den Sitz des Präsidenten ist weiträumig abgesperrt, gespenstische Stille. Betonblöcke und gepanzerte Fahrzeuge an jeder Ecke, schwer bewaffnete Soldaten kontrollieren die Ausweise des Interviewers, des Übersetzers und der Fotografin.
Nach zwei Checkpoints öffnet sich das Tor. Nach dem Gang durch den Hof noch ein Checkpoint am Palasteingang. Es ist düster, die Soldaten kommunizieren über alte Telefone. Die Fenster des Palasts sind allesamt mit Sandsäcken verbarrikadiert, in der Mitte ist immer ein kleines Viereck frei, als Schießscharte.
Es geht in den dritten Stock. Eine Tür öffnet sich, ein ernster Mychailo Podoljak grüßt per Handschlag, er ist sehr blass. Gerade erst ist einer der führenden Getreidehändler des Landes mit einem gezielten russischen Angriff getötet worden. Der runde Besprechungstisch ist gewachsenes Chaos, Bücher, Papiere. Auf dem Schreibtisch lugt ein kleiner fröhlich dreinblickender Teddy heraus.
"Wir wollen die Ukraine in den Grenzen von 1991 zurückbekommen"
Herr Podoljak, Sie sind der engste Berater von Präsident Selenskyj. Auf Ihrem Schreibtisch liegt eine Pistole, da hinten liegen zwei Helme und schusssichere Westen. Sind Sie bereit hier zu sterben?
Ich werde hier so lange bleiben, wie es nötig ist. Wir sind vorbereitet, unsere Bedingungen hier sind absolut normal, wenn wir es mit den Bedingungen unseres Militärs vergleichen. Das sind unsere Helden. Wir arbeiten hier Tag und Nacht, aber um es klar zu sagen: Hier ist eine weitere Frontlinie.
Dort neben dem Schreibtisch zählen wir sieben Paar Schuhe, inklusive Pantoffeln. Es sieht so aus, als wohnen Sie in diesem zum Bunker umgebauten Präsidentenpalast.
Ja, seit dem 24. Februar 2022, 6 Uhr morgens. Als der russische Angriff begonnen hat.
Eine ganz simple Frage. Wenn man das hier sieht, das Schwanken der Menschen in Kiew zwischen Scheinnormalität und weiter fast täglichem Luftalarm: Wie geht es Ihnen?
Wir leben in einem Krieg, der jetzt schon fünfeinhalb Monate dauert. Aber wir sehen keine Demoralisierung der Bevölkerung und es gibt eine große Übereinkunft, dass dieser Krieg nicht zu den Bedingungen Russlands, nicht zu Bedingungen, die die Bevölkerung nicht akzeptiert, beendet werden darf. Der Krieg kann nur durch einen Sieg der Ukraine beendet werden.
Was ist ein Sieg der Ukraine?
Wir sind vorbereitet auf einen langen Krieg. Die Wirtschaft ist auf eine Art Kriegswirtschaft umgestellt worden, wir sind bereit, dass es so lange dauert, bis wir gewonnen haben. Russland will ein expansionistisches Imperium sein; in diesem Verständnis ist es das oberste Ziel, weiteres Land zu gewinnen.
Sie investieren nicht in den Wohlstand ihrer eigenen Bevölkerung, sie investieren nicht in den eigenen Fortschritt und neue Technologien, sie versuchen das woanders her zu bekommen, durch Einverleibungen. Sie müssen dafür aber ihrer eigenen Bevölkerung zeigen:
Wir sind ein Imperium, das in der Welt gefürchtet wird. Deswegen ist es entscheidend für die Ukraine, keine von Russland dominierten, kriminellen Enklaven auf seinem Territorium zuzulassen. Das wäre nur der Schauplatz neuer Provokationen, Eskalationen und Attacken. Jedes neue Minsk Abkommen, ob 3, 4 oder 5, wird nur den Krieg verlängern. Und es würde vor allem den Russen Zeit geben, sich neu zu sortieren, eine neue Strategie zu entwickeln, um härter zuzuschlagen. Sie würden nicht stoppen, bis die Ukraine zerstört ist.
Nochmal, was heißt ein Sieg der Ukraine?
Bevor wir die Gräueltaten in Butscha gesehen haben, gab es vielleicht einen Weg, mit Russland zu besprechen, wie man zurück kommen könnte zum Status Quo ante des 23. Februar dieses Jahres. Nach diesen Taten, nach der Zunahme von Kriegsverbrechen, nach dieser Art der Kriegsführung und ihren Statements, hat sich das geändert. Wir wollen die Ukraine in den Grenzen von 1991 zurückbekommen, als die Ukraine unabhängig von der Sowjetunion geworden ist.
Also nicht nur den Donbass zurückerobern, sondern auch die Krim?
Ja. Natürlich, einschließlich der Krim. Nur die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine wird ein wirkliches Ende des Krieges ermöglichen.
"Die angeblichen Probleme mit der Turbine bei Nord Stream 1, das ist eine rein fiktionale Krise"
Sie haben für die ukrainische Seite die anfänglichen ukrainisch-russischen Verhandlungen geführt, dann sahen wir grausame Kriegsverbrechen. Dennoch meint der frühere Kanzler Gerhard Schröder, er habe mit Putin geredet, der sei an einer Verhandlungslösung interessiert.
Herr Schröder versteht in keiner Weise, was Russland wirklich tut, wie es agiert. Russland will keine Verhandlungen, Russland will eine Eroberung von Gebieten, die sie mit ihrem großen militärischen Apparat dann besetzen. Ihre Absicht ist es, den Krieg nur zu stoppen, wenn sie genug besetzt haben. Sie versuchen derzeit Zeit zu gewinnen, um sich neu und besser zu organisieren, um neue Waffen zu produzieren. Und sie versuchen den Druck auf die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zu erhöhen, um ihre Moral zu brechen.
In Ländern wie Deutschland schwindet das Interesse an dem Krieg, zudem ist der scheidende Botschafter Andrej Melnyk für viele Bürger zu einer Feindfigur geworden.
Der Schlüssel für uns ist, dass unsere Partner nicht das Interesse an diesem Krieg verlieren, dass die Unterstützung hoch bleibt; Russland versucht gerade in den Westen, in die öffentliche Meinung dort einen Keil zu treiben. Das Hauptziel bleibt, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören und die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen. Man könnte es weiter Ukraine nennen, aber mit einer Marionettenregierung, unter vollkommener Kontrolle der Russen. Das ist das Ziel.
Dann kann es also nur eine militärische Lösung geben?
Nicht unbedingt. Wenn wir einige Gewinne haben, wenn wir in der Lage sind, Gebiete im Süden und im Osten zurückzuerobern und zu befreien, und Russland dann versteht, dass sie nicht genug Waffen und Kraft haben, um die Ukraine zu zerstören, nur dann können wir über rationale Verhandlungen sprechen, also unter akzeptablen Bedingungen für die Ukraine.
Wie würden Sie die aktuelle russische Kriegsführung beschreiben?
Erstens: Sie nutzen an der Frontlinie massiv Artillerie, das erhöht die Opferzahl und Zerstörungen. Ihre Idee ist, unser Militär zu demoralisieren, indem sie diese gewaltigen Mengen an Artillerie benutzen. Zweitens: Sie nutzen Raketen mit enormer Reichweite und greifen damit Ziele in scheinbar sicheren Regionen an.
Das Ziel ist, auch die Zivilbevölkerung zu demoralisieren. Drittens versuchen sie die pro-russischen Kräfte im Westen zu mobilisieren, inklusive Journalisten und Politiker. Um die Ukraine zu zwingen, Verhandlungen zu starten oder um den Rückhalt für die Ukraine zu schwächen. Das beste Beispiel ist ein Gerhard Schröder.
Viertens: Es gibt weitere Ebenen der hybriden Kriegsführung, die Ernährungskrise ist längst nicht gelöst, auch wenn wir Fortschritte im Schwarzen Meer sehen. Das Ziel ist, eine Migrationselle von Asien und Afrika Richtung Europa zu erzwingen, um den Westen weiter zu schwächen. Fünftens die Energiekrise, das Einsetzen von Gas als Waffe.
Das bewegt wegen der explodierenden Preise viele Deutsche gerade mehr als der Krieg…
Wir sehen doch die angeblichen Probleme mit der Turbine bei Nord Stream 1, das ist eine rein fiktionale Krise. Die Europäische Union, besonders Deutschland, sind leider noch nicht in der Lage, das russische Gas komplett zu ersetzen.
War es ein historischer Fehler Deutschlands, sich so abhängig zu machen?
Es war vor allem ein fundamentales Missverständnis, Russland als einen verlässlichen, rationalen Partner sehen zu wollen, der Verträge einhält. Wenn ein Land so abhängig ist, von unzuverlässigen Partnern, verliert es seinen Führungsanspruch. Viele Staaten haben gewarnt. Deutschland war die Führungsnation in Europa, gerade durch die ökonomische Stärke.
Aber dann hat man mit Nord Stream eine strategisch falsche Richtung eingeschlagen. Deshalb haben besonders Polen und die baltischen Staaten für sich begriffen, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen.
"Das Ziel Russlands ist eine neue Sowjetunion"
Die Ukraine muss dennoch ein Kippen der Stimmung in Deutschland fürchten, Wladimir Putin lockt mit dem vergifteten Angebot – ich liefere euch mehr Gas, wenn ihr Nord Stream 2 in Betrieb nehmt. Sollten Deutschland das tun?
Auf gar keinen Fall, das macht keinen Sinn. Das wird die Motivation Putins nur steigern, noch aggressiver und erpresserischer aufzutreten. Wir dürfen bei allen Problemen nicht kriegsmüde werden. Wenn Russland gewinnt, dann werden sie nicht bei der Ukraine stoppen, das sollte allen langsam klar sein. Dann wird Russland schnell seinem Einfluss in Europa ausbreiten, Europa spalten.
Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass Putins Spiel aufgeht, vielen Deutschen ist ein warmes Wohnzimmer wichtiger als der Donbass.
Die Frage ist doch nicht die Menge des Gases, es geht um die Frage: Wird Europa seine Freiheit behalten oder werden Teile unter totalitaristische Kontrolle fallen. Es ist kein Krieg allein um die Ukraine, sondern um die Dominanz in Europa. Wenn Russland gewinnt, wird es sehr schnell Europa dominieren.
Also ist das Ziel eine neue Sowjetunion?
Absolut, genau. Wir werden dann eine rasche Expansion sehen. Polen, Rumänien, Georgien, Moldawien, die baltischen Staaten. Es ist der Versuch, ein neues Groß-Russland zu schaffen.
Ist es in dieser fragilen Situation mit einem schweren Winter sinnvoll, dass Deutschland auf Druck der Grünen die letzten drei Atomkraftwerke wie geplant im Dezember abstellen will?
Nein. Dieser Winter ist ein Schlüsselwinter. Wir müssen zwingend alles nutzen, was wir haben, um schnellstmöglich eine neue Energielandkarte in Europa zu schaffen und nicht weiter den Krieg Russlands zu finanzieren.
Also wäre ein Weiterlaufen der Atomkraftwerke auch wichtig, damit die Solidarität mit der Ukraine bei Stromengpässen nicht wegbricht?
Das ist nicht primär eine Frage von Solidarität, sondern von Führungsstärke in Deutschland. Wir zahlen einen hohen Preis, viele Menschen sterben. Wir hoffen, dass unsere Partner diesen Preis sehen und verstehen, und ihrerseits alles tun, was möglich ist. Das ist auch eine Frage der Freiheit, der Abkehr von der Abhängigkeit von Russland und einer trotzdem stabilen Energieversorgung im Winter.
Monatelang gaben sich europäische Spitzenpolitiker in Kiew die Klinke in die Hand. Jetzt ist Ferienzeit und es wirkt, als schwinde auch das politische Interesse am Krieg.
Nein, ich sehe nicht, dass die Unterstützung schwindet. Die strategischen Entscheidungen für Waffenlieferungen stehen, Europa hat verstanden, dass Russland nicht stoppen wird. Wir sehen, wie es jetzt auch zwischen Serbien und dem Kosovo Chaos zu stiften versucht.
Bundeskanzler Olaf Scholz sieht sich Dauerkritik ausgesetzt, dass er die Ukraine zu wenig unterstützt.
Wir müssen zunächst zurückblicken: Deutschland war in der Merkel-Zeit sicher, dass Russland ein Partner sein kann, mit dem man auskommen kann. Deutschland muss jetzt in eine andere Richtung gehen, begreifen, wie Russland wirklich ist. Für Kanzler Scholz ist es sehr schwer, er muss hier Führung übernehmen, um das rasch zu ändern.
Aber wir sind zu hundert Prozent überzeugt davon, dass er eine andere Richtung in den Beziehungen zu Russland einschlagen will. Wenn man sein Handeln sieht und seine Aussagen hört, will er da eine andere Politik. Er scheint bereit, diesen Führungsanspruch zu übernehmen.
Kritiker auch in seiner Koalition monieren, Deutschland könnte Kiew mehr Waffen liefern.
Fakt ist, wir brauchen mehr Waffen. Erstens: Langstrecken-Artillerie und Mehrfachraketenwerfer, um die russische Logistik und Nachschublager zu zerstören. Das senkt die Zerstörungen und reduziert Opferzahlen, demoralisiert zudem die russische Armee. Zweitens Mehr Drohnen.
Und drittens Luftabwehrsysteme wie das von Deutschland angekündigte Iris-T-System, um unsere Städte besser vor Luftangriffen zu schützen. Wir brauchen mehr davon, gerade um folgende fünf Städte zu schützen: Kiew, Charkiw, Dnipro, Mykolajiw und Odessa. Zudem brauchen wir mehr gepanzerte Fahrzeuge, um nach Rückschlägen Russlands schneller in die von ihnen kontrollierten Gebiete vorstoßen zu können. Die ukrainische Armee ist kreativ, sehr flexibel in ihrer Kriegsführung, während die russische Armee eine Strategie aus den 60er Jahren verfolgt.
"Zu den Verlusten sagen wir nichts"
Dennoch gibt es gewaltige Opferzahlen, wie viele ukrainische Soldaten sind bisher gefallen?
Zu den Verlusten sagen wir nichts.
Über 150.000 Soldaten sollen an der Front sein, 500 000 insgesamt im Einsatz. Zuletzt haben sich besonders viele Frauen gemeldet, um zu kämpfen, wie viele Frauen sind im Einsatz?
Nach den neusten Zahlen sind rund 38.630 Frauen im Einsatz, davon 5.000 Frauen an der Front.
Wenn man sich hier in Kiew umhört, vergleichen es viele Bürger mit Tschetschenien, wo es auch erst heroischen Widerstand gab und dann Russland das Land umso brutaler unterworfen hat. Wie wollen Sie den Krieg gewinnen?
(Atmet tief durch). Russland will am liebsten den Konflikt einfrieren auf dem Status quo für ein halbes Jahr, um neue Waffen zu beschaffen, neue Soldaten, um den Nachschub zu verbessern. Und dass der Westen müde wird – dann würde Russland mit aller Kraft neu zuzuschlagen.
Die Gegenstrategie der Ukraine ist sehr einfach: Wir müssen in der kürzest möglichen Zeit unsere Anstrengungen vervielfachen, um möglichst viel Territorium zurückzuerobern, vor allem im Süden. Wir müssen dafür die Zahl unserer Waffen erhöhen. Je mehr und je schneller wir schwere Waffen wir bekommen, desto schneller können wir diesen Krieg stoppen.
Aber ausgerechnet Ihr wichtigster Verbündeter, die USA, könnten in den nächsten Monaten mit einem ganz anderen Problem beschäftigt sein: China und Taiwan.
Ich glaube nicht, dass es da eine zweite Front geben wird. In der Welt gibt es kein anderes Land, außer Russland, das derzeit einen großen Krieg will. Es geht um die Ein-China-Politik, auf der China beharrt. Und ich hoffe sehr, dass das mit Verhandlungen gelöst werden kann.
Das Gespräch führte Georg Ismar.