Diese russischen Kriegsverbrechen sind dokumentiert

Von Cornelius Dieckmann, Sebastian Leber und Maria Kotsev
Am 24. Februar überfällt Russland die Ukraine. Das Moskauer Verteidigungsministerium erklärt, man werde weder Schläge auf Städte verüben noch die Bevölkerung bedrohen. Dass das Putin-Regime sich von Anfang an nicht daran hält, wird in den folgenden acht Kriegswochen offensichtlich.
Die UN haben mindestens 2104 getötete und 2862 verletzte Zivilisten dokumentiert. Wegen der schlechten Informationslage in Kampfgebieten sei die tatsächliche Zahl vermutlich deutlich höher. Unabhängige Medien berichten von Morden, Vergewaltigungen, Folter, Angriffen auf Wohnhäuser – Brüche des humanitären Völkerrechts.
Die ukrainische Generalstaatsanwältin ermittelt in mindestens 5800 Fällen zu russischen Kriegsverbrechen, 500 Verdächtige seien identifiziert. Auch der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Karim Khan, ist einbezogen. Die Ukraine hat zwar, wie Russland, das Rom-Statut – Vertragsgrundlage des IStGH – nicht ratifiziert, unterstützt aber Ermittlungen auf ihrem Gebiet.
US-Präsident Biden spricht von "Völkermord" in der Ukraine
Russlands Streitkräften werden vielfach Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, also systematische Verbrechen gegen Zivilisten. Einige Politiker und Experten erheben den Vorwurf des Genozids, die vorsätzliche vollständige oder teilweise Zerstörung einer nationalen oder ethnischen Gruppe. Neben dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj spricht inzwischen auch US-Präsident Joe Biden von Völkermord.
"Verstöße auf ukrainischer Seite" sind ebenfalls dokumentiert, gerade im Umgang mit Kriegsgefangenen, wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kürzlich in einem Bericht festhielt. Die von Russland begangenen Verstöße seien aber "nach Art und Umfang weitaus schwerwiegender".

Wer hat sie begangen? Der ukrainische Militärgeheimdienst hat hunderte Namen laut Kiew beteiligter russischer Militärs veröffentlicht. Auch darauf basierend haben die beiden früheren FDP-Bundesminister Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz) und Gerhart Baum (Innen) Anfang April eine Strafanzeige beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eingereicht. Die 41-seitige Schrift benennt neben der politischen Führung um Wladimir Putin zahlreiche Militärbefehlshaber: 33 Einzelpersonen sowie 26 Streitkräfte-Einheiten samt Kommandeuren.
Langfristig liegen die Hoffnungen vieler auf Den Haag. Chefankläger Khan bezeichnet die ganze Ukraine als "Tatort". Und Kriegsverbrechen verjähren nicht. Eine unvollständige Dokumentation.
24. Februar, Wuhledar: Angriff mit Streumunition auf Klinik
Bei einem Raketenangriff mit Streumunition wird das Krankenhaus des ostukrainischen Dorfs Wuhledar beschädigt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommen vier Zivilisten ums Leben, zehn werden verletzt.
Die vom Großteil der Weltgemeinschaft – allerdings nicht von Russland und der Ukraine – geächtete Munitionsart enthält eine Vielzahl von Sprengkörpern, die den Radius und die Tödlichkeit der Attacke vergrößert. Die Weltgesundheitsorganisation dokumentiert bis Anfang April mehr als 100 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen.
25. Februar, Ochtyrka: Angriff mit Streumunition auf Kindergarten
In der nordöstlichen Stadt Ochtyrka werden bei einem Raketenangriff mit Streumunition auf einen Kindergarten laut Amnesty International drei Zivilisten getötet, darunter ein Kind. Im Gebäude hatten Zivilisten Schutz gesucht. Drohnenaufnahmen zeigen mehrere Einschläge.
27. Februar, Staryj Bykiw: Hinrichtung von Zivilisten
Russische Soldaten treiben im Dorf Staryj Bykiw in der Region Tschernihiw sechs Männer zusammen und erschießen sie. Das berichtet eine Bewohnerin des Nachbardorfs Nowyj Bykiw Human Rights Watch. Eine Mutter sagt, sie habe ihren Sohn und einen weiteren Mann mit Kopfschusswunden und gefesselten Händen aufgefunden. Erst eine Woche später erlauben die Besatzer eine Beerdigung.
28. Februar, Charkiw: Angriff mit Streumunition auf Wohngebiet
Amnesty International dokumentiert drei Angriffe mit Streumunition in Charkiw. Die Salven schlagen im nördlichen Teil der Stadt ein und töten mindestens neun Zivilisten, darunter Kinder. Mindestens 18 weitere Personen werden verletzt. "Streumunition ist in Charkiw überall zu finden. Das ist die Munition, die Russland am häufigsten einsetzt", bestätigt auch Maria Avdeeva von der Denkfabrik European Experts Association, die seit Kriegsbeginn in Charkiw mutmaßliche Kriegsverbrechen dokumentiert.
1. März, Kiew: Angriff auf Fernsehturm
Ein Geschoss schlägt in Kiews wichtigstem Fernsehturm ein. Nach ukrainischen Angaben sterben mindestens fünf Menschen. Der Rundfunk muss eingeschränkt werden. Auch die angrenzende Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar, die an das 1941 von der Wehrmacht begangene Massaker an 33.000 Juden erinnert, wird getroffen. In den Folgewochen werden laut OSZE mindestens neun weitere Fernsehtürme beschädigt, etwa in Melitopol, Charkiw, Korosten und Riwne.
3. März: Beginn der Belagerung Mariupols
Russische Truppen kesseln spätestens seit dem 3. März Mariupol vollständig ein, belagern den Hafen. Die Blockade führt zu Engpässen in Wasser-, Lebensmittel- und Medikamentenversorgung.
3. März: Luftangriff auf Tschernihiw
Russische Streitkräfte feuern mindestens acht ungelenkte Fliegerbomben auf die Stadt Tschernihiw ab. Entsprechende Videobeweise hat Amnesty International ausgewertet. Der Regionalverwaltung zufolge werden 47 Menschen getötet.

4. März, Schytomyr: Angriff auf Schule
Bei einem Angriff auf die 270.000-Einwohnerstadt Schytomyr wird die 25. Schule zerstört, wie auf einem wenig später aufgenommenen, vom Tagesspiegel verifizierten Video zu sehen ist. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich eine Kirche, ein Kindergarten, ein Ärztehaus, eine Bibliothek und ein Büro der Staatsanwaltschaft. Todesopfer gibt es offenbar nicht. Bis Ende März werden laut der ukrainischen Generalstaatsanwältin 570 Bildungseinrichtungen beschädigt.
6. März, Nowa Kachowka: Demonstrant erschossen
Bei einer friedlichen Demonstration in Nowa Kachowka gegen die russische Besetzung der südukrainischen Stadt wird laut OSZE ein Mann erschossen, sieben weitere Teilnehmer werden verletzt.
6. März, Worsel: Kind stirbt an Kopfschuss
In Worsel, Region Kiew, werfen russische Soldaten eine Rauchgranate in einen Keller, in dem Anwohner sich verstecken. Als diese hinausrennen, schießen die Militärs auf sie. Ein 14-jähriges Kind stirbt durch Kopfschuss, eine Frau erliegt zwei Tage später ihren Verletzungen, berichtet ein Mann, der am 7. März in dem Keller Unterschlupf findet und ihren Tod bezeugt, Human Rights Watch.
7. März, Hostomel: Schüsse auf Zivilisten
Russische Soldaten beschießen ein Lieferauto, mit dem Jurij Prylypko, Bürgermeister von Hostomel, und Freiwillige Lebensmittel und Medikamente an Zivilisten in Schutzbunkern liefern. Bei dem Angriff werden Prylypko und zwei weitere Männer getötet. Prylypkos Leichnam wird anschließend offenbar vermint.